Lockdown "light": Zieht Türkis-Grün bald die Notbremse?
3.394 neue SARS-CoV-2-Infektionen in 24 Stunden, 1.569 Menschen in Spitalsbehandlung – davon 224 auf Intensivstationen.
Immer heftiger wird angesichts dessen über einen zweiten Lockdown spekuliert – nicht zuletzt auch deshalb, weil man ins Nachbarland Deutschland blickt:
"In Österreich gibt es deutlich mehr Infektionen pro 100.000 Personen als in Deutschland. Je länger mit einem Wellenbrecher-Lockdown gewartet wird, desto länger wird er dauern müssen und desto größer werden die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen sein", schreibt etwa der Mikrobiologe Michael Wagner auf Twitter.
In Deutschland wird bereits am Montag das öffentliche Leben heruntergefahren (siehe unten). Kanzler Sebastian Kurz hat am Mittwoch mit seiner Amtskollegin Angela Merkel telefoniert.
"Ganz Europa befindet sich nun mitten in der zweiten Welle, weshalb es überall zu weiteren Einschränkungen und lockdownähnlichen Zuständen kommt", sagte Kurz im Anschluss an das Telefonat.
Die Kapazitäten in den Spitälern würden in Deutschland wie in Österreich knapper und das Contact Tracing gestalte sich immer schwieriger.
"Daher ist die weitere enge Zusammenarbeit mit Deutschland und den anderen europäischen Partnern von besonderer Bedeutung. Wir wollen möglichst eng abgestimmt vorgehen und die Grenzen weiterhin offen halten", erklärte der Kanzler.
Expertenrunde im Kanzleramt
Kommen also bei uns bald ähnliche Maßnahmen wie in Deutschland? Ein "Lockdown light", über den derzeit wild spekuliert wird?
Das könnte bereits heute, Donnerstag, im Kanzleramt entschieden werden: Ab 13 Uhr werden Kanzler Kurz, Vizekanzler Werner Kogler und Gesundheitsminister Rudolf Anschober mit Experten über die Ressourcen in den Spitälern beraten. Dabei soll es nicht nur um Betten, sondern auch um verfügbares Personal und Ausrüstung gehen. Danach soll es um 14 Uhr ein Statement geben.
Im ZiB2-Interview sprach Christoph Wenisch, Leiter der Infektionsabteilung in der Klinik Favoriten, von einer "besorgniserregenden Dynamik" in den Intensivstationen. Er sieht einen "Lockdown light" auf Österreich zukommen: "Ich hoffe, dass man nicht weiter zuschaut", sagte Wenisch.
Indizien dafür, dass noch diese Woche strengere Maßnahmen präsentiert werden, kommen auch aus der Corona-Ampel-Kommission. Heute findet deren wöchentliche Sitzung statt. Laut Standard wurde in einer Vorbesprechung über weitläufige Rotschaltungen diskutiert.
Ganz Österreich solle bis auf sieben Bezirke in Kärnten auf Rot geschaltet werden. Auch eine generelle Rotschaltung stehe im Raum, heißt es in dem Bericht. An diese Schaltung sind zwar nicht automatisch Maßnahmen geknüpft, es liegt aber nahe, dass zu diesem Anlass wieder bundesweit nachgeschärft wird. Die Präsentation der Ampelschaltung ist am Freitag.
Wie wir einem Lockdown entgehen könnten
Bis dato betonten alle Mitglieder der türkis-grünen Bundesregierung, dass alles getan werden müsse, um einen zweiten Lockdown zu verhindern.
Peter Klimek von der Forschungseinrichtung Complexity Science Hub in Wien hat mit seinem Team die Wirksamkeit von Maßnahmen in 226 Ländern analysiert: "Wenn alle Maßnahmen, die jetzt vorgeschrieben und empfohlen sind, besser befolgt werden, könnten wir es gerade noch ohne Lockdown schaffen. Aber langsam schließt sich das Zeitfenster dafür", sagt der Forscher.
Was jetzt wichtig ist:
1. Direkte Kommunikation
"Wir benötigen eine öffentliche Diskussion, die nicht von oben herab läuft, sondern das Risikobewusstsein und das Verständnis für die Maßnahmen erhöht", sagt Forscher Klimek. Masken alleine können die Virusausbreitung um zirka 20 Prozent reduzieren: "Für eine einzelne Maßnahme ist das viel – wenn sich alle daran halten." Der Epidemiologe Hans-Peter Hutter, MedUni Wien, sieht auch sinnvolle Bereiche für das Maskentragen im Freien: "Wo es zu Menschenansammlungen kommt und ausgeschiedene Tröpfchen leicht eingeatmet werden können."
2. Kleine Gruppen meiden
Die Reduktion von Treffen im kleinen Kreis hat mehr Effekt als die Einschränkung von gut organisierten Veranstaltungen mit mehr Personen und einem Hygienekonzept, wie Theater, sagt Klimek. "Millionen kleiner Entscheidungen von uns, ob wir uns mit jemandem treffen oder nicht, machen viel aus." Klar sei aber auch, dass in den nächsten Tagen entschieden gegengesteuert werden muss, wenn die Zahlen weiter steigen.
3. Maßnahmen in Geschäften, Schulen
"Die wirksamsten Maßnahmen sind das Verbieten aller Aktivitäten, bei denen die Menschen in kleinen Gruppen länger miteinander nahen Kontakt haben – also auch das Schließen von Geschäften, Lokalen, Büros und Maßnahmen in Schulen." Wobei Klimek für differenzierte, regional und zeitlich begrenzte Maßnahmen ist: "In Schulen muss man nach dem Alter differenzieren, versuchen Klassen zu teilen etc."
Sorge um Intensivbetten
Gesundheitsminister Anschober ist derzeit "in größter Sorge", wie er am Mittwoch auf Twitter schrieb: "Heute wurden wieder zusätzliche 169 Hospitalisierungen eingemeldet, darunter weitere 21 auf den Intensivstationen. Die Zahl der Erkrankten steigt in den letzten Tagen stark an."
In der Steiermark sind bereits einzelne Krankenhäuser an der Auslastungsgrenze angelangt. Die KAGES hat am Mittwoch für alle Spitäler wieder ein Besuchsverbot verhängt – Ausnahme: Geburten oder Begleitung von Kindern. Da gerade die Betreuung von Covid-19-Patienten auf Intensivstationen besonders personalintensiv ist, bedrohen Personalausfälle die Versorgung – neben möglichen Engpässen von Intensivbetten.
Besonders im Westen Österreichs stieg die Kurve der Neuinfektionen zuletzt steil. 19 Intensivpatienten mit Covid-19 waren es etwa am Mittwoch in Tirol. Das entspricht einer Verdoppelung innerhalb weniger Tage. Die derzeitige Auslastung von zehn Prozent der Intensivbetten, die für Covid-19-Patienten frei gemacht werden können, kann sich rasch erhöhen.
Österreichweit bereiten bereits Spitäler die Verschiebung von nicht akuten Operationen vor. "Leider bewegen wir uns zunehmend auf eine Situation zu, vor der wir seit dem Sommer konsequent gewarnt haben" sagt Klaus Markstaller, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI).
Testverbot für Apotheke
Mit Unverständnis reagierte die Apothekerin Karin Simonitsch auf eine Entscheidung der Wiener Gesundheitsbehörden, die ihr untersagt hatten, Antigen-Schnelltests für Kunden ohne Symptome anzubieten.
Mehrere hundert Menschen hatten am Freitag und Samstag der Vorwoche ihre Apotheke in Wien-Mariahilf gestürmt, um sich für knapp 25 Euro testen zu lassen und binnen 15 Minuten das Ergebnis zu bekommen. Unter ihnen Privatpersonen, die ihre Großeltern besuchen wollten, aber auch viele Firmenmitarbeiter.
"Das Ausmaß des Ansturms hat uns überrascht", so Simonitsch. Jetzt muss rechtlich geklärt werden, ob Apotheken Antigen-Schnelltests anbieten dürfen, so die Apothekerin: "Zum Leidwesen unserer Kunden. Ihnen wird nun keine Lösung für den Alltag mehr angeboten."
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