Worüber wir im EU-Wahlkampf zu wenig gesprochen haben
Kommendes Wochenende wählen die EU-Staaten ein neues EU-Parlament. Im Vergleich zur letzten Wahl, 2019, hat sich die Themenlage deutlich zugespitzt. Allen voran sicherheits- und verteidigungspolitisch, durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Gleichzeitig droht mit dem „Green Deal“ der klimapolitisch größte Wurf der EU zu zerfallen. Auch Europas Industrie gerät durch massive Investitionsprogramme in China oder den USA immer stärker unter Druck. Kurzum: Die Lage ist ernst. Und Österreich?
Beschäftigte sich im EU-Wahlkampf vor allem mit dem Charakter einer 23-Jährigen. Die Debatte um Grünen-Spitzenkandidatin Lena Schilling – sie soll Lügen über Dritte verbreitet haben – überschattete wochenlang die meisten Sachthemen. Worüber hätten wir im EU-Wahlkampf diskutiert, wenn die „Causa Schilling“ nicht ausgebrochen wäre? Der KURIER hat sich fünf zentrale Punkte näher angesehen.
Green Deal
Die EU-Wahl 2019 war auch eine „Klima-Wahl“. Das resultierte im „Green Deal“, Europas umweltpolitischer „Mondmission“, wie es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (EVP) formulierte. Oberstes Ziel: Bis 2050 soll die EU klimaneutral werden. Vier heiße Sommer später ist Ernüchterung eingekehrt. Zwar konnten Vorhaben wie das Aus für Neuzulassungen von Verbrennern ab 2035 umgesetzt werden. Dieses wurde aber bereits abgeschwächt – und Teile der EVP wollen nun endgültig den Retourgang einlegen. Sinnbild der europäischen Klimapolitik ist wohl das EU-Renaturierungsgesetz. In Europa gibt es kaum noch intakte, natürliche Lebensräume. Das soll sich bis 2050 wieder ändern. Kurios: Nachdem sich der EU-Trilog aus Parlament, Kommission und Rat zu Jahresende auf einen Kompromiss geeinigt hatte, dürfte es im EU-Rat dennoch nicht die nötige Mehrheit finden.
Agrarpolitik
Ausgehend von Deutschland, fanden zu Jahresbeginn Bauernproteste in mehreren EU-Staaten statt. Die wütenden Landwirte ärgerten sich über zunehmende Bürokratisierung in der EU, die drohende Stilllegung landwirtschaftlicher Flächen sowie Freihandelsabkommen. Nur kurz darauf lockerten die EU-Staaten die Umweltauflagen für Landwirte. Die EU wird Bauern beispielsweise doch nicht dazu verpflichten, Ackerflächen stillzulegen, um beim Artenschutz mitzuhelfen. Zudem hat die EU-Kommission ihren Vorschlag für eine Pestizidverordnung zurückgezogen. Gegen weitreichende Reformen, hin zu einer nachhaltigeren Landwirtschaft, hat sich die Agrarlobby erfolgreich gewehrt. Und das, während rund 40 Prozent des EU-Budgets in die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) fließen.
Deindustrialisierung
Während die USA und China auf massive Subventionsprogramme setzen, um Ihre Industrien vor allem im Bereich der Energiewende zu stärken, droht Europa den Anschluss zu verlieren: in der (E-)Autoindustrie, bei der Herstellung von Windrädern oder Photovoltaikanlagen. Top-Ökonomen betonen: Europa droht die reale Gefahr einer Deindustrialisierung. Die Programme zur Unterstützung des Aufbaus einer grünen Industrie sind zwar in Beschlüssen wie dem „Net Zero Industry Act“ groß formuliert, aber viel zu bescheiden finanziert und nicht attraktiv genug.
Migration
Nach mühsamem politischen Tauziehen über viele Jahre ist es der EU zu Jahresbeginn gelungen, sich zumindest in Grundzügen auf eine neue Asyl-und Migrationspolitik zu einigen. Diese bringt etwa eine deutliche Verschärfung und Beschleunigung der Asylverfahren, die zu einem Teil direkt an den EU-Außengrenzen abgewickelt werden sollen. Bis zur praktischen Umsetzung der Reform sind aber noch unzählige heikle Detailfragen zu klären – und da klaffen die Interessen der einzelnen Staaten immer noch weit auseinander. Die ÖVP will zudem Asylverfahren in sicheren Drittstaaten forcieren.
Verteidigung
Der russische Angriff auf die Ukraine hat auch die Schwächen in Europas militärischen Fähigkeiten offen gelegt. Seither werden in Brüssel Pläne gewälzt, wie man nicht nur die europäische Rüstungsindustrie ausbauen und besser koordinieren kann, sondern auch die Streitkräfte der einzelnen EU-Länder. Da droht allerdings ein Konflikt mit der NATO, die in militärischen Fragen keine Konkurrenz durch die EU zulassen will. Die Rüstungsindustrie wiederum will sich nicht von der EU-Politik vor einen Karren spannen und Preise diktieren lassen. Lieber machen Frankreichs und Deutschlands Waffenhersteller im Alleingang und mit jedem Land einzeln Geschäfte – und die laufen derzeit ohnehin blendend. Zur Finanzierung dieser militärischen Pläne drängt Frankreich darauf, dass die EU neue, gemeinsame Schulden aufnimmt. Davon aber wollen Länder wie Deutschland, oder Österreich nichts wissen.
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