Es gibt wohl wenige Themen, über die so emotional diskutiert wird wie über Migration. Was ist es, das die Menschen so aufregt? Kann und muss man die Debatte versachlichen? Darüber sprachen im KURIER-TV die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger und der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak.
So schwarz-weiß, wie man annehmen könnte, beurteilen die Menschen in Österreich das Thema nicht, stellt Kohlenberger fest: „Die europäische Wertestudie zeigt, dass die Einstellung zu Migration über die Jahrzehnte positiver wurde.“
Konkret heißt das, dass im Vergleich zu vor 20 oder 30 Jahren weitaus mehr Österreicherinnen und Österreicher sagen, dass Zugewanderte einen wichtigen Beitrag für das Land und für die Wirtschaft leisten. Daneben sei die Bereitschaft, Schutzbedürftige aufzunehmen, weiterhin groß.
Rhetorik und Realität
Ganz anders sehe es aus, wenn Migration auf politisch-medialer Ebene behandelt wird – da ist das Thema emotional aufgeladen: „Es gibt eine Kluft zwischen Rhetorik auf der einen und Migrationsrealität auf der anderen Seite“, sagt Kohlenberger. Warum dem so ist, darüber kann man nur spekulieren.
Manfred Nowak beobachtet, dass die Polarisierung in vielen Bereichen zunimmt – dahinter stecke eine generelle Furcht vor dem Anderssein, nicht nur vor Fremden, sondern auch vor Menschen mit einer anderen sexuellen Identität oder einer anderen Religion. „Das hängt damit zusammen, dass wir uns in unseren Familien, unserer gesellschaftlichen Blase am wohlsten fühlen – das stiftet Identität. Und wenn da plötzlich ein anderer daherkommt, dann empfinden wir primär Angst.“ Das sei einer der Hauptgründe für diese Emotion. Diese könne durch politische Parteien und Medien verstärkt werden, sodass Menschen fremdenfeindlich würden.
Laut Manfred Nowak kann man „nachvollziehen, dass das Thema Migration emotional besetzt ist. Genau deshalb ist es so wichtig, die Sache zu versachlichen, also die schweigende Mitte hereinzuholen und nicht nur mit den polarisierenden Rändern zu sprechen.“
Berechtigte Ängste
Dass manche Ängste berechtigt sind, gestehen sowohl Judith Kohlenberger als auch Manfred Nowak ein – wenn man etwa an die Kalifat-Demonstrationen in Hamburg oder an die überfüllten Schulen in Wien denkt. Die Ursachen der aktuellen Probleme liegen aber schon Jahrzehnte zurück, gibt Kohlenberger zu bedenken: „Österreich, Deutschland und die Schweiz sind zu klassischen Einwanderungsgesellschaften geworden, haben sich aber nicht so verhalten – im Gegenteil: Am liebsten hätte man Gastarbeiter gehabt, die um 6 Uhr morgens ankommen und um 17 Uhr wieder ins Heimatland zurückkehren. So hat man in der Integrationspolitik viel versäumt.“
Ein Fehler, der Österreich jetzt einholt, besonders im Hinblick auf die zweite und dritte Generation von Migrantinnen und Migranten. Manche von ihnen fühlen sich weder in Österreich noch in ihrer Heimat ihrer Eltern wirklich zu Hause. Für radikale Prediger ist es da ein Leichtes, diese Menschen abzuholen, indem sie sagen: „Der Grund, warum die Österreicher dich nicht wollen, ist deine Religion – genau das ist es aber, was deinen Mehrwert für uns ausmacht, warum du besonders wertvoll bist“, erläutert Kohlenberger.
Sündenbockpolitik
Fehler seien nicht nur in der Integration, sondern auch in anderen Politikfeldern gemacht worden, zum Beispiel in der Bildungspolitik. „Zu glauben, dass die Schulen unter Druck kommen, nur weil es jetzt mehr Flüchtlinge gibt, und ohne sie hätten wir das Problem nicht, greift zu kurz. Da schwingt oft mit, dass strukturelle Probleme einfach verschwinden würden, wenn wir nur die Grenzen schließen. Das ist eine Art Sündenbockpolitik“, so die Migrationsforscherin. Strukturelle Fehlentwicklungen, die das Land schon lange mit sich herumschleppt, werden in einer pluralistischen Migrationspolitik plötzlich akut.
Manfred Nowak beobachtet, dass sich über die Jahre etwas verschoben hat: „Der Eiserne Vorhang hat uns auch geschützt. Damals kamen Flüchtlinge aus Ungarn, der Tschechoslowakei, aus Polen, von denen viele weiterwanderten. Daneben gab es die Gastarbeiter, über die man froh war, weil sie die Jobs gemacht haben, die die Österreicher nicht machen wollten und zum Wirtschaftswunder beigetragen haben. Damals gab es noch keine polarisierte Diskussion“, stellt der Völkerrechtler fest.
Ende des Kalten Krieges
Schlagartig geändert habe sich das mit dem Ende des Kalten Krieges – plötzlich war die Angst da, dass halb Russland nach Europa kommt. „In keiner Partei gab es damals einen vernünftigen Diskurs – das war alles von Ängsten besetzt“, erinnert sich Menschenrechtsexperte Nowak.
Seine Kritik: „Wir hätten in den 90er-Jahren einen vernünftigeren, rationaleren Diskurs benötigt, um nach dem Angriff auf das World Trade Center (2001; Anm.) gewappnet zu sein für eine vernünftige, auf Integration angelegte Migrations- und Flüchtlingspolitik.“
Islamismus
Mittlerweile sei die Angst vor dem Islamismus groß – auch weil die Religion instrumentalisiert wird. Die, die den Islam missbrauchen, stellen auch die westliche Gesellschaftsordnung infrage – das sehen viele als Gefahr.
Kohlenberger hadert mit dem Begriff der Versachlichung. „Ich möchte dieses Schwarz-Weiß – hier Emotion, dort Ratio – auflösen. Wir Menschen tragen bei allen Entscheidungen auch Emotionen mit. Bei einem solchen Thema ist es absolut legitim, diese einzubinden.“
Judith Kohlenberger wünscht sich auch in der öffentlichen Debatte ein Ende des Schwarz-Weiß-Denkens: „Etwa im Hinblick auf die Außengrenzen, wo es weder darum geht, sie komplett offen noch komplett geschlossen zu halten, sondern durchlässig – nach klaren Kriterien zwischen offen und geschlossen austarieren, auch nach demokratischen Gesichtspunkten.“
Man müsse diskutieren, wer kommen darf, wer zu welchen Bedingungen bleiben und wer nicht.
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