Migrations-Expertin: "Europa produziert laufend Fluchtgründe mit"

Migrations-Expertin: "Europa produziert laufend Fluchtgründe mit"
Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger sieht den Trend zur Externalisierung von Migration als problematisch an.

EU-Deals mit dem Libanon und Ägypten, das britische Ruanda-Modell oder das Italien-Albanien-Abkommen:

Der Trend der Auslagerung an Drittstaaten in der Migrationspolitik ist in den vergangenen Monaten immer sichtbarer geworden. Migrationsforscherin Judith Kohlenberger hält diesen jedoch weder für nachhaltig noch für zielführend. In der EU fehle trotz kürzlich beschlossenem Asylpakt der "ganzheitliche Ansatz" in der Migrationspolitik, wie Kohlenberger im APA-Interview sagt.

Abkommen zwischen Italien und Albanien

Weil es in der EU außer dem EU-Türkei-Deal weitgehend an überstaatlichen Migrationsabkommen fehlte, hätten immer mehr einzelne Mitgliedsstaaten nach Möglichkeiten der bilateralen Kooperation mit Drittstaaten gesucht und Rückführungsabkommen, "oder gleich Auslagerungsabkommen" geschlossen, so Kohlenberger etwa unter Verweis auf das Abkommen zwischen Italien und Albanien, laut dem Asylanträge von Bootsflüchtlingen in albanischen Asylzentren geprüft werden sollen. 

"Das alles ist problematisch, weil es auf einer gewissen Ebene eine Parallelstruktur eröffnet", warnt die Expertin der WU Wien und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE).

Haftähnliche Bedingungen 

Auch der kürzlich beschlossene EU-Asyl und Migrationspakt, den Kohlenberger grundsätzlich kritisch beurteilt, sieht eine gewisse Externalisierung von Asylprozessen vor. So sollen Geflüchtete bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag unter haftähnlichen Bedingungen in Auffanglagern untergebracht werden. Diese "Inhaftierung" sei "nur möglich, weil man sich der Fiktion der Nicht-Einreise bedient. Es wird also angenommen, dass sich die Menschen während des Vorabscreening-Prozesses noch nicht in Europa befinden. De facto sind sie geografisch aber auf europäischem Boden. Nur dadurch ist die Anhaltung möglich", erklärt die Migrationsforscherin.

In vielen Aspekten, die durch die Reform des EU-Asylsystems festgezurrt wurden, bewege man sich in "Grauzonen". Praktiken, die bis vor der Reform nicht gesetzesmäßig waren, würden "teilweise jetzt verrechtlicht und dadurch natürlich legitim", so Kohlenberger. "Dieser stärke Trend zur Abschreckung und Abschottung geht nur, wenn der gesetzliche Rahmen, in dem man sich bewegt, ausgereizt wird."

"Immer noch ungelöste Migrationsfrage"

Blaupause für die Externalisierung von Asylverantwortlichkeit in Drittstaaten sei der EU-Türkei-Deal, der im März 2016 geschlossen wurde, gewesen. Man könne aber nicht behaupten, dass dieser erfolgreich war - "sonst hätten sie nicht eine immer noch ungelöste Migrationsfrage". Dauerhaft habe der Deal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zur Destabilisierung beigetragen, so Kohlenberger. Erdogan habe Flüchtende immer wieder auf "erpresserische Art und Weise eingesetzt", und der Deal habe auch nicht dazu geführt, dass die EU sicherer geworden wäre oder man mehr Souveränität über die eigenen Grenzen habe, betont Kohlenberger. "Im Gegenteil."

Als "Sorgenkind" und "großen Unsicherheitsfaktor" sieht die Migrationsexpertin die Ukraine. "Je nachdem, wie es sich die Situation bis Herbst entwickelt und ob die USA die Ukraine weiterhin unterstützen, kann es schon sein, dass es zu einer zweiten größeren Fluchtbewegung aus der Ukraine kommt. Das sind dann tendenziell eher weniger Gebildete mit weniger Ressourcen, wie es bei späteren Fluchtbewegungen meist der Fall ist. Höhergebildete sind mobiler und fliehen oft als erste."

Hungerkrise im Sudan

Aber auch die Krise im Sudan bereite ihr Sorgen, sagte Kohlenberger. Zwar würden die meisten Vertriebenen in den Nachbarländern Zuflucht finden, es bleibe aber die Frage, was das für die Stabilität der Region bedeute. "Europa sollte definitiv ein stärkeres Augenmerk auf die Hungerkrise im Sudan legen und etwa den Tschad als unmittelbaren Nachbarn und Hauptaufnahmeland umfassender unterstützen."

Im Falle großer, neuer Fluchtbewegungen und so lange das "große Paket des Asylkompromisses", wie Kohlenberger den EU-Pakt zu Migration und Asyl nennt, "nicht vollständig in der Umsetzung gelandet ist, wird es die nationalen, bilateralen Bestrebungen weiterhin geben", prophezeit sie.

Produktion von Fluchtgründen

Außerdem klammere die Reform die Bekämpfung von Fluchtursachen völlig aus. "Auf der einen Seite wehrt man Flüchtlinge ab, auf der anderen produziert man laufend Fluchtgründe mit - siehe Folgen der Klimakrise oder Wirtschaftspolitik. Europa trägt zu Flucht und Arbeitsmigration bei", betonte Kohlenberger. Migration als "ganzheitliches Thema" zu begreifen schaffe auch der EU-Pakt nicht - "weil alles mit der sicherheitspolitischen Brille betrachtet wird", arbeits-, wirtschafts- oder sozialpolitische Aspekte würden keine Beachtung finden, auch nicht die Frage, wie etwa Integration funktionieren könne. Ebenso wenig würden die Kernfragen: "Wie will sich Europa im globalen Flüchtlingsschutz positionieren?" und "Wie können wir Menschen, die Schutzbedarf haben, helfen, nicht ihr Leben aufs Spiel setzen zu müssen, um ihr Recht auf Asylantragstellung geltend machen zu können?" beantwortet.

Positiv am EU-Asyl- und Migrationspakt, der in den kommenden zwei Jahren umgesetzt werden soll, ist nach Kohlenbergers Ansicht nur, dass es die 27 Mitgliedsstaaten endlich geschafft hätten, einen Kompromiss in Sachen Migrationspolitik zu erzielen. "Es wäre eine Bankrotterklärung der EU-Kommission gewesen, wenn es hier kein Weiterkommen gegeben hätte." Das würde bei der EU-Wahl im Juni den rechten Parteien in die Hände spielen.

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