"Österreich erwacht endlich aus der Konsens-Lethargie"

Der Wiener Philosoph Oliver Marchart über das politische Jahr 2016.
Zeit für eine Bilanz über das politische Jahr 2016. Der Wiener Philosoph Oliver Marchart erstellt für kurier.at eine Diagnose über die heutige Gesellschaft. Dabei kommen Phänomene wie "demokratischer Faschismus" und "Regime der Unruhe" zur Sprache. Eine Obduktion unserer (Konsens-)Demokratie.

Es ist kurz vor Weihnachten, der erste Schnee ist gefallen. In seinem Büro am Institut für Politikwissenschaften sitzt Oliver Marchart, dunkelgraues Sakko, roter Pulli und Sneakers. In seinen Händen hält er einen Coffee-to-go-Becher. "Den tun wir aber weg. Wir wollen doch keine Werbung machen", sagt er und stellt ihn zur Seite. Der Fotograf verrückt noch den Tisch und die Stühle. "Bücher im Hintergrund wirken immer", erklärt er, "und die Blätter können'S auch auf dem Tisch lassen."

Marchart ist Philosoph und Soziologe, beschäftigt sich in seinen Schriften mit politischen Theorien und seziert nun für kurier.at das Jahr 2016. "Ich sage Ihnen aber gleich, mein Gedächtnis reicht nur zwei Wochen in die Vergangenheit", beginnt er das Gespräch.


Kurier.at: Kein Problem. Wir wollen nicht über einzelne Ereignisse sprechen. Das machen am Ende des Jahres alle. Uns würde viel mehr interessieren, wie Sie das politische Jahres 2016 allgemein diagnostizieren.

Oliver Marchart: Ich würde das Jahr 2016 als Jahr der Alternativen bezeichnen. Denn, was immer man auch über Norbert Hofer und Alexander Van der Bellen denken mag, sie waren echte Alternativen. In den USA waren es Donald Trump und Bernie Sanders - weniger Hillary Clinton.

Hat es nicht schon immer solche Alternativen in der westlichen Demokratie gegeben?

Seit Anfang der 2000er Jahre sehen wir, dass sich die westlichen Demokratien in einem Stadium des langsamen Abschwungs befinden. Der britische Soziologe Colin Crouch bezeichnete diese Situation als "Postdemokratie" (siehe Video; Crouch im Interview mit Werner Reisinger und Florian Christof). Ihm zufolge sind demokratische Institutionen nur noch leere Hüllen, Lobbyisten gewinnen immer stärker an Einfluss. Es gab keine Alternativen, weil alle Parteien mehr oder minder dieselbe neoliberale Politik machten. Heute ist das anders. Zum ersten Mal seit 1989 stehen wir wieder an einer politischen und gesellschaftlichen Wasserscheide. Niemand kann sagen, wohin die Reise gehen wird.

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Sie meinen die politischen Überraschungen wie Donald Trump oder Brexit.

Ja, aber nicht nur. Es kann immer anders kommen. Stellen Sie sich vor, Bernie Sanders wäre statt Donald Trump US-Präsident geworden. Dann hätten die Amerikaner nicht die konservativste, wenn nicht sogar reaktionärste Regierung seit Menschengedenken (hier dazu mehr), sondern die progressivste. Das zeigt, wie volatil die gesamte Situation ist.

Warum haben sich die Wähler 2016 für diese Alternativen entschieden?

Einen großen Anteil daran haben die etablierten Parteien selbst. Sie haben auf eine Politik gesetzt, die den Abbau der sozialstaatlichen Sicherung vorangetrieben hat. Die Parteien der Mitte können den Menschen keine positiven Zukunftsversprechen mehr anbieten. Gleichzeitig kann man aber nicht fünfundzwanzig Jahre lang sagen, wir müssen die Gürtel enger schnallen. Das erinnert an die "organische Krise", von der der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci (1891-1937) spricht…

Das Alte stirbt und das Neue kann nicht geboren werden.

Genau das meine ich mit dieser offenen Situation. Eine Neuordnung ist unausweichlich, weil es so für viele Menschen einfach nicht mehr weitergehen kann. Es kann sein, dass das westliche, liberale Demokratiemodell, wie wir es seit dem Zweiten Weltkrieg kennen, vollständig zusammenbricht. Vielleicht schlittern wir in eine gelenkte Demokratie, wie es in Russland der Fall ist. Es ist aber auch möglich, dass sich das System erholt und von innen reformiert.

https://images.kurier.at/46-88973052.jpg/237.158.454 KURIER/Franz Gruber Oliver Marchat, Interview Interview mit dem Philosophen und Soziologen Oliver Marchat am 20.12.2016 in Wien

Was mit den Alternativen offenbar einhergeht, ist die verschärfte Polarisierung in der Gesellschaft.

Gleichzeitig wird aber auch von vielen Kommentatoren und Politikern versucht, diese Polarisierung zu leugnen (mehr dazu hier). Aber warum? Wenn uns 2016 etwas ganz klar gezeigt hat, dann, dass die Gesellschaft gespalten ist. Einerseits gibt es den Wunsch nach mehr Partizipation, andererseits die Sehnsucht nach einem starken Mann. In einer funktionierenden Demokratie gibt es aber nicht den einen Ort der Macht, von dem aus alle anderen Institutionen beherrscht werden könnten.

In Polen, formal ein demokratisches Land, versucht die PiS-Regierung unter Jarosław Kaczyński die Gewaltenteilung auszuhebeln (mehr dazu hier).

Die Aufgabe der Demokratie besteht darin, durch Institutionen - wie die der Gewaltenteilung - zu verhindern, dass es eine Machtposition gibt, von der aus ein starker Mann durchgreifen kann. Als "Regime der Unruhe", wie Karl Marx (1818-1883) die Demokratie bezeichnete, erzeugt sie also selbst ein Gefühl des Unbehagens. Vor allem bei autoritär eingestellten Personen. Wer aber in einer Demokratie leben will, muss lernen damit umzugehen, dass niemand durchgreifen kann.

Befinden wir uns (westliche Gesellschaft) in einer Phase, in der das Begehren nach einem starken Mann größer ist als die Beibehaltung der Demokratie?

Es besteht zumindest die Gefahr eines Systemwechsels. Aus einem ganz einfachen Grund: Weil Demokratie ständig Unruhe erzeugt, muss sie durch soziale Voraussetzungen wie Sicherheit und Wohlstand abgefedert werden. Jetzt sehen wir aber, dass diese sozialen Fundamente der westlich liberalen Demokratie wegbrechen. Weite Teile der Bevölkerung gewinnen den Eindruck, dass sie mit diesem System ökonomisch und sozial auf der Verliererseite stehen oder sich zumindest davor ängstigen.

https://images.kurier.at/46-88973036.jpg/237.158.457 KURIER/Franz Gruber Oliver Marchat, Interview Interview mit dem Philosophen und Soziologen Oliver Marchat am 20.12.2016 in Wien

Wie würde so ein Systemwechsel aussehen?

Weil wir es heute mehr mit neo-autoritären als mit linken Bewegungen zu tun haben, wäre die Extremform wohl ein demokratischer Faschismus. Damit meine ich nicht, dass wir eines Tages im Faschismus, wie wir ihn kennen, aufwachen werden. Aber wenn alles schlecht läuft und neo-autoritäre Bewegungen an die Macht kommen (mehr dazu hier), könnten sie einen Faschismus light oder einen Faschismus unter demokratischen Bedingungen formulieren. Es gibt eine breite Diskussion darüber, ob nicht schon Donald Trump einen solchen Faschismus formuliert hat.

Und hat er?

Ich bin nicht der Ansicht, dass wir es schon mit einem demokratischen Faschismus zu tun haben, aber die eigentliche Gefahr besteht darin, dass wir es eben nicht wissen. Wir stehen vor einer offenen historischen Situation, in der wir nicht sagen können, ob uns die Zukunft in manchen demokratischen Ländern den Faschismus light bringen könnte. Die Sicherheit, dass wir nicht wieder in ein autoritäres, wenn nicht totalitäres System schlittern könnten, ist dieses Jahr sicher verloren gegangen.

Das klingt nun alles sehr negativ und vor allem nach einer Wiederholung der Geschichte. Mal wird die Demokratie abgeschafft, dann sind wir wieder demokratisch, jetzt wird sie wieder abgeschafft, in Zukunft sind wir noch demokratischer.

Colin Crouch bietet bei seiner These der Postdemokratie als Muster die Parabel an. Zuerst gibt es den Moment der schwachen Demokratie, dann hohe Wellen der Demokratisierung und schließlich ein Fading-Out. Aber nach meinem Verständnis bewegt sich Geschichte nicht nach geometrischen Mustern. Sie ist ein ergebnisoffener Prozess. Im Jahr 1943 gab es weltweit nur noch elf Demokratien. Wäre die Geschichte ein wenig anders verlaufen, ist es durchaus denkbar, dass die Demokratie ein Auslaufmodell gewesen wäre.

https://images.kurier.at/46-88973035.jpg/237.592.560 KURIER/Franz Gruber Oliver Marchat, Interview Interview mit dem Philosophen und Soziologen Oliver Marchat am 20.12.2016 in Wien

2016 war auch das Jahr der Rechtspopulisten. Noch nie waren sie so erfolgreich mit ihren Kampagnen wie heuer.

Das liegt daran, dass sie nun das aufgreifen, was schon die Occupy-Bewegung 2011 gefordert hat: Demokratie jetzt! Aber obwohl Rechtspopulisten die Rückkehr des Demos versprechen, fordern sie eine plebiszitäre Führerdemokratie (mehr dazu hier). Ich hätte Schwierigkeiten das als Demokratie zu bezeichnen.

Wieso findet diese Art von Demokratie überhaupt Resonanz in der Bevölkerung?

Das hat zwei Gründe: Zum einen, weil große Teile der Bevölkerung nicht unbegründet das Gefühl haben, von der Politik der vergangenen fünfundzwanzig Jahre im Stich gelassen worden zu sein. Zum anderen gelingt es in den meisten Ländern nicht, ein Gegengewicht zu den neo-autoritären Bewegungen zu bilden, etwa durch einen linken Populismus oder die Abkehr der Sozialdemokratie vom neoliberalen Dogma (Das Spiel mit Wut und Angst; siehe Video unten).

War der Wahlsieg von Alexander Van der Bellen keine Gegenreaktion auf den Rechtspopulismus?

Dass Van der Bellen gewonnen hat, zeigt nur, dass das Spiel wieder offen ist. Aber wenn progressive Kräfte tatsächlich etwas erreichen wollen, müssten sie die Re-Demokratisierung der Demokratie einfordern, also Möglichkeiten der Mitbestimmung auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Das ist mittelfristig die einzige Alternative zur autoritären Wende.

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Weil wir schon in Österreich sind. Was hat sich in der österreichischen Politik 2016 getan?

Wir sehen erste Zeichen einer Veränderung - nicht notwendigerweise zum Schlechten. Der Hofburg-Wahlkampf hat ein neues Bewusstsein dafür geschaffen, dass der öffentlich ausgetragene Streit in einer Demokratie legitim ist. Österreich hatte damit ja immer ein Problem gehabt, weil wir hier den Neokorporatismus gepflegt haben. Gesellschaftliche Interessen wurden klassischerweise im Hinterzimmer oder beim Heurigen verhandelt, um öffentlich nicht streiten zu müssen. Aber die Tatsache, dass die Gesellschaft gespalten ist, hat nun alle möglichen Konfliktlinien offengelegt. Österreich erwacht endlich aus dieser Konsens-Lethargie.

2016 wurde ja ziemlich oft öffentlich gestritten. Aus Ihrer Sicht also ein sehr erfolgreiches innenpolitisches Jahr.

Demokratietheoretisch ja. Der Streit wurde von Medien und Politiker lange Zeit als etwas Negatives betrachtet. Man ging davon aus, dass in der Bevölkerung die Stimmung vorherrscht, die Regierung soll nicht streiten, sondern arbeiten (mehr dazu hier). Nur die Opposition würde klatschen, wenn gestritten wird.

Ist das nicht der Fall?

Ich vertrete die Meinung, dass zwei unterschiedliche Koalitionsparteien mit unterschiedlichen Vertretungsansprüchen um die Regierungspolitik ringen müssen. Es gibt keinen Grund, weshalb dieser Streit hinter verschlossenen Türen ausgetragen werden sollte. Streit und Konflikt gehören zum Regime der Unruhe. Was wäre denn die Alternative? Ein Philosophenkönig, der weiß, welche Politik die richtige ist? Oder ein Technokrat, der sich die beste Politik immer ausrechen kann?

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Sie verstehen aber auch, dass der Wähler nach einem Streit auch Lösungen von der Politik fordert.

Das ist schon klar. Aber man muss damit leben lernen, dass bestimmte Positionen unvereinbar sind. Ich bin da eher für eine gewisse Entspanntheit gegenüber dem Phänomen des Parteienstreits. Dass man sich in einer Koalition nicht auf alles einigen kann, ist keine Katastrophe. In den Medien wird es aber leider oft so dargestellt.

Wenn ich Sie richtig verstehe, können wir der Entwicklung, dass mehr gestritten wird, auch etwas Positives abgewinnen?

Absolut. Demokratie bedeutet nicht einfach, dass die parlamentarische Mehrheit bestimmt, was das Beste für alle ist. Die Mehrheit ist zwar die formale Voraussetzung, das ist richtig, aber eine Demokratie ist nur dann wirklich vital, wenn um gesellschaftliche Interessen öffentlich gerungen wird – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlaments. 2016 kam es, mit Michel Houellebecq gesprochen, zur "Ausweitung der Kampfzone". Das birgt Risiken, aber auch Chancen.


Zur Person: Oliver Marchart ist seit 2016 Professor für Politische Theorie an der Universität Wien. Zu seinen Schwerpunkten gehören Gesellschafts- und Demokratietheorie, politische Ideengeschichte, Soziale Bewegungsforschung, Prekarisierungsforschung und politische Diskursanalyse.

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