"Haben moralische Verantwortung, allen Menschen zu helfen"
Stellen Sie sich vor, Sie spazieren durch den Park in Ihrer Umgebung. Sie tragen teure Kleidung und eine wertvolle Uhr, die Sie vor einigen Tagen zum Geburtstag geschenkt bekommen haben. Nach einigen Minuten kommen Sie an einem Teich vorbei und sehen ein Kind, das zu ertrinken droht. Es ist niemand anderes da, der helfen könnte. Die Zeit drängt. Was tun Sie?
Wenn ein Kind vor unseren Augen ertrinkt, würden die meisten von uns zustimmen, dass wir die moralische Pflicht haben, das Kind zu retten - auch wenn wir dabei unsere teuren Kleider und eine wertvolle Uhr ruinieren. Das Leben des Kindes scheint uns wichtiger zu sein als materieller Besitz.
Wie viele würden aber auf teure Konsumgüter, die wir nicht unbedingt zum Überleben brauchen, verzichten, um das Geld stattdessen für notleidende Kinder in Entwicklungsländern zu spenden? Nur wenige, sagt Peter Singer. Der australische Moralphilosoph beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, wozu wir den Ärmsten dieser Welt verpflichtet sind. Im KURIER-Gespräch erklärt er, warum man über die Konsequenz einer Spende nachdenken muss und Angela Merkels Willkommenspolitik ethisch sehr fraglich ist.
KURIER: Herr Singer, warum retten wir das Kind im Teich, fühlen uns aber nicht für notleidende Kinder in Entwicklungsländer verantwortlich?
Peter Singer: Für die meisten Menschen spielt die geografische Distanz eine große Rolle. Muss ich wirklich helfen? Kann das nicht eine Organisation tun, die sowieso dort ist? Unser moralisches Empfinden hängt sehr stark davon ab, ob wir mit Not und Leid direkt konfrontiert sind. Somit lässt sich zwar der Umstand, dass viele Leute beim Teich-Beispiel eine Hilfspflicht anerkennen, im Falle der Armut in Entwicklungsländern jedoch nicht, erklären, nicht aber rechtfertigen. Moralisch macht es nämlich keinen Unterschied, ob ein Kind vor meinen Augen oder Tausende Kilometer entfernt in Not ist.
Nun kann man über den Vergleich diskutieren. Beim Teich-Beispiel muss ich sofort handeln, im Entwicklungsland sind auch politische Akteure gefragt.
Bei aller berechtigten Kritik an der Analogie kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass wir die moralische Verantwortung haben, allen Menschen zu helfen. Egal, wo sie leben, ob sie sich äußerlich von uns unterscheiden oder eine andere Kultur pflegen. Wir glauben leider viel zu oft, dass es reicht, keinem etwas Schlechtes anzutun. Aber in der Welt, in der wir leben, reicht es nicht aus, sich nur an Gesetze und Gebote zu halten.
Das Spendenaufkommen wird von Jahr zu Jahr größer. Viele Menschen investieren in die Katastrophenhilfe oder für andere Zwecke.
Ja, aber ein hoher Prozentanteil des Geldes bringt nicht den größten Nutzen für die Gesellschaft. Wir verschwenden fahrlässig zu viele Ressourcen.
Warum?
Für gewöhnlich achten wir im Alltag auf ein Preis-Leistungs-Verhältnis. Aber Menschen, die spenden wollen, handeln oft nach dem Wohlgefühl ihrer Großherzigkeit. Sie stolpern sozusagen über karitative Organisationen. Sie werden vom Fundraiser angesprochen oder kennen jemanden, der für den Verein arbeitet. Aber machen sich die Personen Gedanken darüber, ob ihre Geldspende auch effektiv ist?
Eine Herzensangelegenheit zu unterstützen, halten Sie für falsch?
Ich glaube, es ist falsch zu fragen, was das dringendste Problem ist. Stattdessen sollten wir uns alle fragen, wo bewirkt meine Spende am meisten? Wenn es uns im Wesentlichen darum geht, mit einer Spende möglichst viel Gutes zu bewirken, dann sollte die Effektivität einer Spende ausschlaggebend sein. So könnten zum Beispiel zehn Euro an einer anderen Stelle viel mehr bewirken als in einer österreichischen Wohltätigkeitsorganisation, die Sie vermutlich gar nicht kennen. Sie stecken doch auch kein Geld in ein Unternehmen, weil Ihnen immer so warm ums Herz wird. Warum sollte es beim Spenden anders sein?
Sagen wir, ich unterstütze finanziell einen Chor in meinem Heimatgebiet. Daran ist doch nichts verwerflich.
In der Logik des effektiven Altruismus, den ich hier vertrete, genießt die Rettung von Leben höchste Priorität. Viele von uns haben das Glück, in einem wohlhabenden Land mit beträchtlichem Komfort zu leben. In einer Welt, in der alle Armutsprobleme gelöst sind, hätte ich nichts gegen Spenden für Kunstprojekte oder Bildungseinrichtungen wie Universitäten. Solange aber Millionen von Kindern jährlich wegen Armut sterben, sollten wir uns diesen Aufgaben widmen.
Seit Beginn der Flüchtlingskrise haben sehr viele Menschen ihre Hilfe angeboten und gespendet - sei es Kleidung, Spielzeug oder auch Geld.
Die Hilfe konzentriert sich zu sehr auf Menschen, die Europa bereits erreicht haben, statt auf jene, die noch in Syrien oder im Irak festsitzen. Ich denke, das ist ein Fehler. Wenn man zum Beispiel für Flüchtlinge in Österreich spendet, gibt es weniger, um Menschen in Entwicklungsländern zu helfen. Das ist schade. Spenden für den Libanon, der sehr viel mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als Europa, würden viel effektiver sein, als Spenden in Österreich oder Deutschland. Wir dürfen nicht nur global denken, wir müssen endlich auch so handeln.
Entspricht die Willkommenskultur von Angela Merkel Ihrer rationalen Philosophie?
Merkels Standpunkt, dass jeder das Recht auf Asyl hat, ist auf der einen Seite sehr bewundernswert, besonders angesichts der Geschichte Deutschlands. Am Ende ist diese Willkommenspolitik aber ethisch sehr fraglich.
Warum ethisch fraglich?
Wenn Deutschland eine Million Menschen Asyl gewährt, wird die Würde von einer Million Menschen geschützt. Es gibt aber 19 Millionen Menschen, die aus ihren Ländern geflohen sind. Dazu kommen noch fast 40 Millionen Binnenflüchtlinge. Ist es ethisch zu vertreten, dass derjenige, der es übers Meer an den Strand schafft, das Aufenthaltsrecht vor jenen bekommt, die in den Lagern Libanons warten? Sollten einige wenige Flüchtlinge privilegiert werden, nur weil sie in der Lage waren, für die Überfahrt zu zahlen?
Ist die australische Flüchtlingspolitik denn etwa ethisch korrekter als die deutsche, weil jeder zurückgeschickt wird, der die Küste erreicht?
Sie vergessen, dass Australien nur jene nicht ins Land lässt, die illegal an den Stränden landen. Legal werden Flüchtlinge aufgenommen. Aber ja, es ist ein sehr hartes System, das dazu geführt hat, dass viele Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen. Es verhindert aber auch, dass Menschen auf kaputten Schiffen nach Australien aufbrechen und dabei ums Leben kommen.
Befürworten Sie diese Position?
Ich befürworte nicht, dass Menschen Asyl bekommen, aber weiterhin auf irgendwelchen Inseln in Lagern eingesperrt werden. Was wir benötigen, ist eine globale Lösung, die auf Logik aufbaut. Wir müssen mehr Geld investieren, um Menschen in Kriegsgebieten zu helfen. "Wenn du unser Land erreicht hast, dann akzeptieren wir dich" ist mit Sicherheit der falsche Weg. Unser Ziel muss sein, die Lebenssituation von allen Menschen zu verbessern. Das bedeutet nicht, dass wir alle aufnehmen müssen.
Persönlich spenden Sie nach eigenen Angaben zwischen 25 und 35 Prozent Ihres Einkommens. Ist das das Maximum, das ein Mensch tun kann?
Das weiß ich nicht. Ich kenne eine Reihe von Menschen, die ein besseres ethisches Leben führen als ich.
Sie sind Vegetarier, besitzen kein Auto und setzen sich für die Rechte von Tieren ein. Sie verzichten vermutlich auf mehr als viele andere Menschen in reicheren Gesellschaften.
Verzicht ist keine Komponente im Altruismus. Als Altruist treffe ich Entscheidungen, die mein Glück mehren, nicht schmälern. Das bedeutet, ich tue das, was ich für richtig halte. Mein ethisches Maximum besteht darin, so vielen Menschen wie möglich zu helfen.
Und das funktioniert ausschließlich mit Geld?
Es ist sicher nicht die einzige Möglichkeit, aber für Menschen, die keine besonderen Fähigkeiten besitzen, um Menschen zu helfen, dafür aber Geld haben, das sie spenden können, ist es die beste. Denken Sie nur an Bill Gates oder Warren Buffet. Sie spenden zig Milliarden und retten damit Millionen Leben. Das machen sie nicht aus Eigennutz, um ihr Image zu verbessern. Sie kalkulieren, wo ihre Spende am meisten nützt.
Kalkulieren Sie auch?
Als effektiver Altruist bin ich natürlich empfänglich für Zahlen und Kosten. Zum Glück gibt es schon einige Initiativen, die wohltätige Organisationen rechnerisch auf ihre Leistungsfähigkeit hin evaluieren. Dazu gehört zum Beispiel "GiveWell", "Giving What We Can" oder "The Life You Can Save", eine Organisation, die ich gegründet habe. Wir überprüfen Wohltätigkeitsorganisationen, um für Spender das beste Investment zu finden. Das ist nicht immer ganz einfach.
Sie schauen sich also die Struktur einer Organisation an?
Nicht nur. Klar, für viele Spender ist eine transparente Organisation extrem wichtig. Wie viel Prozent der Spenden kommen tatsächlich an? Wie viel kostet die Verwaltung? Für uns ist aber auch relevant, wie das Geld vor Ort eingesetzt wird. Sind die Ergebnisse der Organisation überhaupt auf Handlungen der Organisation zurückzuführen? Oder wären einige Resultate auch ohne Spenden möglich gewesen? Wie sieht das Verhältnis zwischen Kosten und Wirksamkeit aus? Sie werden nicht glauben, wie oft sich herausstellt, dass ein bestimmter Betrag bei Organisation B den hundertfachen Nutzen dessen bringen kann, was er bei Organisation A bewirken würde. Es kommt bei Spenden weniger darauf an, wie viel man gibt, sondern an wen.
Und an wen sollte man Ihrer Meinung nach spenden?
Wir empfehlen die "Against Malaria Foundation" (AMF). Die Organisation verteilt in von Malaria betroffenen Gebieten Moskito-Bettnetze, die mit Insektiziden behandelt sind und im Schnitt fünf Dollar kosten. 100 Prozent Ihrer Spende wird für den Kauf von diesen Bettnetzen verwendet, private Stifter übernehmen die administrativen Kosten, lokale Partner die Distribution. Was extrem wichtig ist: Die Netze werden richtig und in tatsächlich gefährdeten Gebieten angebracht. Dadurch sind die Kindersterblichkeit und Zahl der Malariainfektionen erheblich gesunken. Kinder können weiterhin die Schule besuchen und Erwachsene ihrer Arbeit nachgehen, was natürlich einen enormen Effekt für die Wirtschaft eines Landes hat.
Zur Person: Peter Singer gilt als einer der meistzitierten Gegenwartsphilosophen, auch weil er Menschenrechte für Menschenaffen fordert, zugleich aber das Lebensrecht schwerstbehinderter menschlicher Neugeborener in Frage stellt. Wegen seinen provokanten Thesen wird er vor allem von Behindertenverbänden scharf kritisiert. Singer forscht und lehrt an der renommierten Princeton University in den Vereinigten Staaten. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören "Animal Liberation" (1975) und "Practical Ethics" (1980). Sein neuestes Werk ist kürzlich auf Deutsch erschienen: "Effektiver Altruismus. Eine Anleitung zum ethischen Leben" (2016).
Kommentare