Christian Stocker: "Kann dem Stadtbild-Sager von Merz etwas abgewinnen"

ÖVP- und Regierungschef Christian Stocker
Worin der Kanzler seinem deutschen Pendant Merz beipflichten kann, warum er zu August Wöginger hält und wie er den "Österreich"-Aufschlag auf EU-Ebene für lösbar hält.

KURIER: Etwas, was Sie seit Ihrer Amtszeit beschäftigt, das ist das Haushaltsdefizit. Es beträgt 4,2 % des BIP, sollte gemäß Maastricht-Kriterien bei 3 % liegen. Kann man annähernd zufrieden sein?

Christian Stocker: Die Wirtschaftsleistung und die Inflationsraten sind in Bereichen, die uns nicht zufrieden stellen. Ich habe keine Freude damit, dass wir uns in Europa am unteren Ende der Skala befinden. Ich will, dass wir wieder vorne dabei sind, deshalb habe ich auch die 2-1-0-Formel entwickelt. Wir wollen die Inflation auf zwei Prozent halbieren, mindestens ein Prozent Wirtschaftswachstum und haben null Toleranz all jenen gegenüber, die zu uns kommen, aber es mit unserer Gesellschaft nicht gut meinen.

Was passiert, wenn Sie 2026 die Formel 2-1-0 nicht erreichen?

Geben Sie mir eine Chance. Wir sehen, dass die Energiekosten und die Lohn-Preis-Spirale in der Vergangenheit inflationstreibend waren. Ich bin sehr dankbar, dass im Öffentlichen Dienst ein Beitrag geleistet wurde, die Lohn-Preis-Spirale zu durchbrechen. Und ich bin den Pensionistinnen und Pensionisten dankbar, dass wir heuer unter der Inflationsrate anpassen konnten. Das ist weder selbstverständlich noch ein Zukunftsmodell, aber ein Beitrag, damit wir die Inflationsrate nach unten bekommen. Gleichzeitig bemühen wir uns auf EU-Ebene, den Österreich-Aufschlag wegzubekommen. Die Wettbewerbsbehörde hat gesagt, dass dieser Aufschlag für etwa acht Prozent des Lebensmittelpreises verantwortlich ist.

Wie kommt der Österreich-Aufschlag zustande und was konkret erhoffen Sie sich auf EU-Ebene ausrichten zu können?

Eine gewisse Preisdifferenz zwischen Deutschland und Österreich erklärt sich unter anderem durch einen niedrigeren Mehrwertsteuersatz. Der Österreich-Aufschlag ergibt sich, weil unsere Lebensmittelhändler nicht beim billigsten Anbieter einkaufen können, sondern durch die territoriale Lieferbeschränkungen gezwungen sind, bei bestimmten Händlern einzukaufen. Das ist eine Wettbewerbsverzerrung, die nicht dem Binnenmarkt und den Wettbewerbsregeln der EU entspricht und meiner Meinung nach nicht adäquat ist. 

Stocker und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen

Stocker und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen

Was macht Sie zuversichtlich, sich in der EU durchzusetzen?

Weil es eine ungerechte Lösung ist und ich darauf vertraue, dass man auf Fairness und Gleichbehandlung Wert legt. 

Wann kommt die Industriestrategie, die Sie erst Ende des Jahres, dann Ende November vorlegen wollten und was beinhaltet sie?

Ich bin zuversichtlich, dass wir Ende des Jahres eine gute Strategie vorstellen können.

Stromrechnung mit Geldscheinen und Netzstecker.

Die Netzentgelte werden 2026 nicht mehr so stark steigen wie zuletzt.

Für Empörung sorgt derzeit, dass die Kosten der Gasnetze um 18 Prozent gestiegen sind. Ist es nicht hoch an der Zeit, dass die Politik steuernd eingreift?

Ich verstehe, dass es Empörung auslöst, wenn etwas teurer wird, aber wir müssen sehen, was dahinter liegt. Wenn weniger Gasverbraucher das Netz nutzen, steigen auch die Preise. Zudem haben wir mehr als 110 Netzgesellschaften in Österreich, rund zwei Drittel davon in öffentlicher Hand – das sind meines Erachtens zu viele. Die Struktur zu verschlanken ist ein Weg, Kosten zu sparen. Außerdem schaffen wir einen Standortfonds. Dieser soll privates Kapital verfügbar machen, das etwa in Infrastrukturprojekte, wie beispielsweise den Netzausbau, investiert werden soll.

Wir sprechen sehr viel über Markteingriffe. Die FPÖ schlägt derzeit wegen der hohen Lebensmittelpreise einen Österreich-Korb vor. Können Sie dem etwas abgewinnen?

Vorschläge sind immer willkommen. Mein Zugang ist: Der Staat sollte so wenig eingreifen wie möglich. Das ist die letzte Rückfalllinie, um Verwerfungen auszugleichen, aber es ist kein Rezept, das primär zur Anwendung gelangen sollte. Was von der FPÖ vorgeschlagen wurde, ist ein Warenkorb mit preislich herabgesenkten Grundnahrungsmitteln. Wenn es nicht dazu führt, dass alle anderen Preise angehoben werden und der Effekt dadurch im Ergebnis wieder verschwindet, kann man alles diskutieren. 

Christian Stocker und Herbert Kickl während Koalitionsgesprächen

Christian Stocker und Herbert Kickl während Koalitionsgesprächen

Brauchen wir nicht Maßnahmen, die schneller wirken?

Viele erwarten wohl: Heute treffen wir die Entscheidung, morgen wird sie wirksam und übermorgen sind die Lebensmittelpreise niedriger. So funktioniert das aber leider weder im Staat noch im Privaten oder Beruflichen. Es gibt parlamentarische Prozesse und Vorlaufzeiten – auch das ist Demokratie. Schnelle Lösungen sind teilweise nur Scheinlösungen. In unserer Demokratie bestimmen mehrere, man braucht Mehrheiten, das dauert etwas länger, aber in der Regel sind die Entscheidungen dann vielleicht auch besser. 

Ist es eine gute Entscheidung, Symbolpolitik zu betreiben wie mit dem Kopftuchverbot für unter 14-Jährige statt darüber nachzudenken, wie man das Problem von nicht deutsch sprechenden Schülern löst?

Dass Mädchen unter 14 Jahren ein Kopftuch tragen, ist religiös nicht erklärbar. Unabhängig davon kann man auch durch Symbole klar machen, wofür man steht - was wir uns wünschen, was wir nicht wollen und was diese Gesellschaft ausmacht. Daher verwehre ich mich nicht dagegen, dass manches als Symbolpolitik bezeichnet wird. 

Was wird sich in Österreich ändern, wenn wie zuletzt Straftäter aus Syrien oder Afghanistan abgeschoben werden?

Was wäre denn die Alternative? Jetzt kann man sagen: Was ändert es, wenn drei Syrer abgeschoben werden? Aber man kann es auch so sehen: Wir sind die einzigen in der EU, die nach Syrien abschieben. Ich habe null Toleranz für Straftäter, die kein Aufenthaltsrecht haben und den Schutz, den wir ihnen gewährt haben, ausnützen. Wer bei uns straffällig wird und kein Aufenthaltsrecht hat, der hat das Land wieder zu verlassen. 

Im Zusammenhang mit diesen Abschiebungen hieß es zuletzt immer: Voraussetzung ist die Anerkennung des Taliban-Regimes in Kabul. Es gab Gespräche auf Beamten-Ebene, heißt das, dass das Taliban-Regime anerkannt ist?

Nein, selbstverständlich nicht – Gespräche auf Beamten-Ebene bedeuten keine Anerkennung der Taliban. Wir haben einen Weg gefunden, wie wir trotzdem abschieben können. Dafür feiern wir uns nicht, aber ich werte es als Erfolg. Ich bin dem Innenminister dankbar, dass er so konsequent ist. Das unterscheidet uns von den Freiheitlichen: Dort wird nur geredet, wir machen es tatsächlich. Wir können die Geschichte immer mit verschiedenen Spins erzählen. Wir können sagen: Wir haben 10.000 Asylanträge. Wir können aber auch sagen, dass wir sie im Vergleich zu 2022 um 90 Prozent reduziert haben. 

In Deutschland wird gerade ein Satz von Kanzler Friedrich Merz diskutiert, der im Zusammenhang mit der Asyl- und AfD-Politik fiel. Im Stadtbild zeige sich die Migrationspolitik. Können Sie dem Satz etwas abgewinnen?

Selbstverständlich kann ich dem etwas abgewinnen. Die Menschen sehen das jeden Tag. Es wäre falsch, so zu tun, als würde es das alles nicht geben. Und ich finde auch nichts Diskriminierendes an dieser Aussage – das ist eine Beschreibung der Wirklichkeit. Wenn wir nicht mit offenen Augen und ehrlich mit dem Thema umgehen, dann werden die Menschen der Politik auch nicht mehr vertrauen. 

Christian Stocker und Friedrich Merz

Christian Stocker und Friedrich Merz

Wie kann man das Vertrauen auf dieser migrationspolitischen Ebene gewinnen?

Pro Tag verlassen rund 35 Menschen unser Land wieder, weil sie kein Aufenthaltsrecht haben, insgesamt sind das mehr als 10.000 Menschen pro Jahr. Wir müssen bei den Menschen wieder das Bewusstsein schaffen, dass Politik, wo sie entscheiden kann, entscheidet. Gefährlich wird es dort, wo Menschen berechtigte Sorgen haben, dass die Politik nichts machen kann, weil es irgendeine Regel oder eine unabhängige Institution gibt, die wir nicht beeinflussen können. Das wirft bei den Menschen die Frage auf: Wenn Du mein Problem nicht lösen kannst, warum soll ich Dich dann wählen? Daher bin ich dafür, dass Politik dort, wo sie Verantwortung trägt, auch wieder Entscheidungsbefugnis übertragen bekommt. Wir werden uns vielleicht manches zurückholen müssen. Wir haben in diesem Land auch unter Beweis zu stellen, dass wir die Ordnungskompetenz haben. 

Wo wollen Sie sich Kompetenzen zurückholen?

Ich will es jetzt nicht an einem konkreten Beispiel festmachen. Mit dem Bestreben, dass man Entscheidungen objektivieren will, hat man der Politik vieles entzogen und in unabhängige, weisungsfreie Behörden verlagert. Das ist kritisch zu hinterfragen, weil die Entscheidungen dieser Behörden zwar unabhängig und weisungsfrei sind, aber die Politik dafür verantwortlich gemacht wird. Ich trage gerne Verantwortung für meine Entscheidungen, aber nicht für die anderer.

Eine wichtige Entscheidung, die ansteht, ist die Reform der Mindestsicherung, die bundeseinheitlich gestaltet sein soll. Sie wollten die Wiener Stadtregierung, die wegen besonders hoher Zahlungen in Kritik ist, nicht überstimmen, sondern überzeugen, wie Sie gesagt haben. Ist Ihnen das gelungen? 

Es ist jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung, dass subsidiär Schutzberechtigte nur mehr in die Grundversorgung übernommen werden. 

Gibt es ein Bundesland, an dem Sie sich orientieren möchten?

Niederösterreich und Oberösterreich haben eine Größenordnung, die ganz gut passen würde. Worauf man sich am Ende einigt, werden die Verhandlungen zeigen. Ich gehe davon aus, dass wir uns an der Unterkante orientieren, nicht an der Oberkante. 

PK ÖVP "MODELL SOZIALHILFE-NEU": NEHAMMER / STOCKER

Karl Nehammer und Christian Stocker

In allen Umfragen ist die ÖVP unter dem Nationalratswahlergebnis, die FPÖ weit darüber. Ihr Vorgänger Karl Nehammer hat gesagt, die Umfragen sind „unter aller Sau“. 

Ich bin nicht zufrieden damit, aber mir ist das Wort von Wolfgang Schüssel im Ohr, der gesagt hat, wir sollen nicht darauf schauen, wo wir in Umfragen liegen, sondern wofür wir stehen. Es ist mir wichtig, klar zu machen, wofür wir stehen. Dann hoffe ich auch, dass die Umfragewerte wieder steigen. 

Haben die schlechten Umfragewerte auch damit zu tun, dass ÖVP-Klubchef August Wöginger sich vor Gericht verantworten musste und Sie nach der Diversion ausrichten haben lassen, die Angelegenheit sei damit für sie erledigt? 

August Wöginger hat die Verantwortung übernommen im Rahmen der Diversion und ich habe gesagt, dass für mich damit die Angelegenheit erledigt ist. Dabei bleibe ich. August Wöginger ist einer der integersten Politiker dieses Landes und hat meine persönliche Unterstützung. 

BEGINN DES PROZESSES GEGEN ÖVP-KLUBOBMANN WÖGINGER UND ZWEI BEAMTE WEGEN AMTSMISSBRAUCHS BEI POSTENBESETZUNG: WÖGINGER

August Wöginger am Prozesstag

Sie haben kein Verständnis dafür, dass Teile der Bevölkerung das nicht nachvollziehen können?

Es wird jeder in seinem Leben vielleicht irgendjemanden kennen, der diese Erfahrung schon einmal gemacht hat. Dass man sich in einer bestimmten Situation an jemanden wendet, egal ob er ein Politiker ist oder nicht, und um Unterstützung ersucht. Daran sollten sich alle erinnern, wenn sie über August Wöginger den Stab brechen.

Gibt es innerhalb der Dreierkoalition Erklärungsbedarf, was die Diversion betrifft?

Ich glaube nicht, weil die Diversion eine gängige Praxis im Strafrecht ist. Man kann Verfahren erledigen, ohne dass es strafrechtlich beurteilt wird mit einem Freispruch oder einer Verurteilung. Ich habe schon Diversionsangebote, die abgelehnt oder zurückgezogen wurden, erlebt. Ich habe jetzt das Gefühl, dass unterstellt wird, wenn man eine Diversion in Anspruch nimmt, dann nur deshalb, weil es zwangsläufig zu einer Verurteilung führen würde. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. 

Hohes Haus in Wien

Nationalrat

Die Dritte Nationalratspräsidentin Doris Bures hat es als „Unsitte“ bezeichnet, dass Politiker Gerichtsurteile wie jenes im Fall Anna kritisieren. Teilen Sie das Attest?

Ich glaube, dass der Fall Anna gezeigt hat, dass es Fälle gibt, in denen das Strafrecht nicht greift. Wenn man öffentliche Gerichtsverfahren besucht, speziell Jugendstrafsachen, kann man den Eindruck gewinnen, dass die Jugendlichen dort überhaupt keinen Respekt mehr vor Gerichten und Institutionen haben. Das ist ein Phänomen, das wir ernst nehmen sollten. Das sind Verhaltensweisen, die vielleicht strafrechtlich gerade keine Verurteilung rechtfertigen, aber trotzdem nicht in Ordnung sind. Dann müssen wir uns überlegen, wie wir damit umgehen.

Wir begehen am 26. Oktober den Nationalfeiertag, feiern 70 Jahre Neutralität. Was assoziieren Sie mit dem Begriff der Freiheit?

Für mich ist es der Fall der Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang, der verschwunden ist. Das hat mir ins Bewusstsein gerufen, was wir haben und als selbstverständlich ansehen und was das für jene bedeutet, die das Jahrzehnte nicht hatten. 

Die Neutralität wird durch die sich verändernde Sicherheitslage hinterfragt. Völkerrechtsexperte Peter Hilpold meint, dass die Herausforderungen der Verteidigung mit konsequenter Neutralitätspolitik kaum in Einklang zu bringen sind. Er sieht die Politik gefordert, die Bevölkerung darüber zu informieren. Warum macht man das nicht?

Weil ich es nicht so sehe. Die Neutralität ist jene Bestimmung, die uns die Freiheit und Selbstbestimmung wieder gegeben hat. Neutralität heißt nicht, dass wir unser Land nicht verteidigen dürfen. Im Gegenteil: Sie verpflichtet uns, unser Land zu verteidigen. Wir haben die Neutralität nach dem Muster der Schweiz ausgelegt. Wer diskutiert darüber, dass sich die Schweiz nicht verteidigen kann? Niemand. 

Werden wir im Bereich der Rüstung, nachdem Ursula von der Leyen ReArm-Europe ausgerufen hat, genug partizipieren können oder wird die Neutralität und negative Erfahrungen mit Gegengeschäften wie beim Eurofighter dem entgegenstehen?

Dass wir an gemeinsamen Beschaffungen teilnehmen können und werden, das sieht man an SkyShield. Die Industriekooperationen sind etwas, das wir nutzen sollten. 

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