Historische Erdoğan-Pleite, die türkische Opposition jubelt – aber wie lange?
Es ist eine der größten Niederlagen, die der lange erfolgsverwöhnte Präsident Recep Tayyip Erdoğan bisher einstecken musste: Die größte Oppositionspartei der Türkei, die CHP, hat die regierende AKP bei den Kommunalwahlen landesweit überholt – zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Die größte Überraschung: die Siege der Opposition in den eigentlich loyalen AKP-Hochburgen in Zentralanatolien. Zudem dürften die fünf größten Städte der Türkei – Istanbul, Ankara, Izmir, Bursa und Adana – an die Opposition gehen.
Als "Stimmungstest" waren die Wahlen im Voraus gehandelt worden. Und wenn man sie so deutet, lautet die Conclusio: Die türkische Bevölkerung ist alles andere als zufrieden.
"It’s the economy stupid", soll sich ein AKP-Politiker gegenüber dem Nachrichtenportal Middle East Eye dem einstigen Wahlkampfslogan des US-Präsidenten Bill Clinton bedient haben. Unleistbare Lebensmittel, horrende Mietpreise und die Enttäuschung über die Regierung Erdoğans wogen bei den über 60 Millionen Wählern schwer – schwerer als Sympathie und Kompetenz vieler Oppositionskandidaten.
Gestärkte Opposition
Für die ist es dennoch ein enormer Erfolg: Nach der Niederlage bei der Präsidentschaftswahl in Vorjahr dominierten Streitigkeiten und Anschuldigungen unter den Oppositionsparteien; bei den aktuellen Wahlen war man vielerorts mit eigenen Kandidaten statt im Bündnis angetreten.
Aber in der türkischen Politik wenden sich das Blatt und die Sympathien oft schnell. Ekrem İmamoğlu, der amtierende und wiedergewählte Istanbuler CHP-Bürgermeister, hat mit unerwartet großem Vorsprung gegenüber seinem AKP-Herausforderer gewonnen – laut eigenen Angaben bekam er eine Million Stimmen mehr, das wären mehr als die 800.000, die er beim zweiten Wahldurchgang 2019 erhalten hat.
İmamoğlu blickt jetzt mit seinem Wahlkampf-Motto "Alle Kraft voraus" Richtung Präsidentschaftswahl 2028. Offen ist, ob ein ihm drohendes Politikverbot doch noch rechtskräftig und ihm jegliche politische Aktivität künftig verboten wird. Doch Erdoğan dürfte angesichts dessen Popularität eher davor zurückschrecken, dessen Anhänger gegen sich aufzubringen.
Gefährlich werden könnte ihm vielmehr ein Parteikonkurrent, der ebenfalls wiedergewählte Bürgermeister Ankaras: Mansur Yavaş gehört zum konservativen, nationalistischen Eck der CHP und gewann in der Hauptstadt mit überwältigender Mehrheit und fast doppelt so vielen Stimmen wie der AKP-Kandidat.
Was kommt jetzt auf die Türkei zu?
Erdoğan wird an Verfassungsänderung festhalten
Erdoğan soll Berichten zufolge, anstatt die Ergebnisse der Wahlen zu verfolgen, mit dem Iran zur Lage in Gaza telefoniert haben und hat sich erst nach führenden Oppositionspolitikern öffentlich geäußert.
Wirtschaftspolitisch wird er die Inflationsbekämpfung als primäres Ziel festlegen müssen. Das wird die Preise mindestens kurzzeitig weiter anheizen. Gleichzeitig muss er sein Verfassungsreferendum, für das ihm angesichts des Erfolgs der Opposition national die Mehrheit fehlen dürfte, aufschieben – aber nicht lang. Der Präsident wird von seinem Vorhaben, das zweite Jahrhundert der türkischen Republik zu prägen wie es vor ihm nur Republikgründer Atatürk tat, nicht abrücken. Er plant, den Islam in der Verfassung und sich weitere Amtszeiten als Staatsoberhaupt abzusichern.
Dafür dürfte Erdoğan seine religiöse Rhetorik verschärfen und versuchen, sich die Unterstützung streng gläubiger Wähler, die zuletzt islamistischen Kleinparteien zuliefen und diesen zu einzelnen Siegen beiden Kommunalwahlen verhalfen, zurückzuholen. Für die Türkei bedeutet das alles andere als ruhige Zeiten – und eine weitere Polarisierung der Bevölkerung.
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