"HTS hat Interesse an Eigenständigkeit Syriens"
Zwar wiederholt die HTS, ein Syrien für alle Minderheiten errichten zu wollen. Der Politikwissenschafter und Kurdenexperte der Uni Wien, Thomas Schmidinger, ist aber "wenig optimistisch", dass sich aus dem multiethnischen Staat unter der HTS ein "stark föderales Syrien" entwickelt. Gerade ist eine Delegation des kurdischen Militärbündnisses in Damaskus. "Das ist auf symbolischer Ebene eine wichtige Entwicklung. Allerdings haben die Kurden keine Freude daran, dass in der Regierung nur semitische, islamistische Männer sitzen, und keine Minderheiten repräsentiert werden," so Schmidinger.
Wird die HTS der kurdischen Autonomieregion Selbstverwaltungsrechte zugestehen? Oder schlägt sie sich auf die Seite der Türkei, die in der Kurdenmiliz einen Ableger der als Terrororganisation eingestuften PKK sieht und aus Angst vor einer Autonomiebewegung im eigenen Land Krieg gegen die Kurden führt?
"Die HTS ist ohne Zweifel ein Bündnispartner der Türkei", sagt Schmidinger. Im Schatten der Machtübernahme der Islamisten haben die pro-türkische Syrische Nationale Armee (SNA) und Verbündete die kurdische SDF auf die Ostseite des Euphrats zurückgedrängt und die strategisch wichtige Stadt Manbij von den Kurden eingenommen. Über 100.000 Kurden sollen auf der Flucht sein; auch zu Kriegsverbrechen an den Kurden soll es gekommen sein – zu Folter und Hinrichtungen.
Allerdings betont der Experte die Eigenständigkeit der HTS: "Sie ist keine Söldnertruppe der Türkei, hat ihre eigene politische Agenda, vertritt einen syrischen Nationalismus. Dieses Interesse an einer Eigenständigkeit Syriens könnte der kleinste gemeinsame Nenner für eine Einigung mit den Kurden und anderen Minderheiten sein."
Gleichzeitig ist die kurdische Autonomieregion seit der Machtübernahme der islamistischen HTS auch von innen unter Druck geraten. "Die kurdische Selbstverwaltungszone umfasst auch einige arabische Stämme, die den Regimewechsel nutzen könnten, um die SDF loszuwerden. Wahrscheinlich ist, dass Gruppen auch von der Türkei oder den Islamisten manipuliert werden", glaubt Schmidinger.
Tausende IS-Kämpfer in Gefängnissen
Auch in Raqqa, wo es zu den Schüssen auf die Menschenmenge kam, gibt es eine starke Bewegung gegen die kurdischen Milizen. Die Stadt war einst Hauptstadt der Terrororganisation Islamischer Staat (IS), von hier aus regierte das "Kalifat". Erst 2017 gelang es der Kurdenmiliz mit den USA, die Stadt zu befreien.
Viele IS-Kämpfer leben hier nach wie vor – in zahlreichen Gefängnissen. Über 40.000 ehemalige IS-Kämpfer, ihre Frauen und Kinder werden hier festgehalten (im Gefangenencamp Roj sitzen auch zwei Österreicherinnen fest). Ein schwelendes Sicherheitsrisiko.
"In der Vergangenheit waren IS und HTS keine Verbündeten, sondern rivalisierende Gruppen. Dennoch findet man heute sowohl in den Reihen der HTS als auch in der von der Türkei unterstützten SNA ehemalige IS-Kämpfer", sagt Schmidinger. Immer wieder gibt es Befreiungsaktionen und Gefängnisausbrüche – nicht selten im Schatten von türkischen Angriffen auf das Kurdengebiet. Käme es wirklich zu einer Massenflucht ehemaliger IS-Kämpfer, könnte das zu einem Erstarken des IS führen; Schmidinger nennt es ein "Worst-Case-Szenario, von dem ich nicht ausgehe, es aber nicht ausschließe" – und das nicht nur für die Kurden und ein stabiles Syrien, sondern eine globale Gefahr wäre. Denn nach wie vor leben in der Region verstreut IS-Zellen, die als politische Organisationen überlebt haben, "und darauf warten, dass sie wieder Gelegenheit bekommen, Kontrolle zu gewinnen", so der Politikwissenschafter.
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