Im Würgegriff der Islamisten: Die ungewisse Zukunft der Kurden in Syrien

Im Würgegriff der Islamisten: Die ungewisse Zukunft der Kurden in Syrien
Nach der Machtübernahme der islamistischen HTS ist die Zukunft der kurdischen Autonomieregion ungewiss. Die Gefängnisse voller IS-Kämpfer bilden ein zusätzliches Sicherheitsrisiko – für die ganze Welt.

Männer und Kinder sind auf den Straßen, versammeln sich um die "neue", alte syrische Flagge, mit grünem Streifen und drei roten Sternen, die auf die Zeit Syriens vor dem Assad-Regime zurückgeht und stets als Zeichen der Rebellen galt. Nach dem Regimesturz wurde die Flagge auch in der kurdischen Autonomieregion Nordostsyrien gehisst, neben der Flagge Kurdistans

Die Aufnahmen stammen aus der nordsyrischen Stadt Raqqa; im Hintergrund ruft jemand "Allahu akbar", die arabische Lobpreisung Gottes. Dann schießt plötzlich ein schwarz gekleideter Mann mit einem Maschinengewehr in die Menge, es sind Schreie zu hören. Mehr als 40 Menschen, auch Kinder, sollen verletzt worden sein.

Was genau am Donnerstag in Raqqa passierte, ist noch unklar. Die Lage ist unübersichtlich; Berichten zufolge soll es zu teils gewaltsamen Protesten gegen die kurdischen Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) gekommen sein, sie haben das Sagen in der Autonomieregion. SDF-Soldaten sollen daraufhin auf die Menge geschossen haben. Jedenfalls fest steht, dass das Ende der Herrschaft von Bashar al-Assad und die Machtübernahme der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) auch die Kurden unter Druck setzt – von innen und außen.

Im Würgegriff der Islamisten: Die ungewisse Zukunft der Kurden in Syrien

"HTS hat Interesse an Eigenständigkeit Syriens"

Zwar wiederholt die HTS, ein Syrien für alle Minderheiten errichten zu wollen. Der Politikwissenschafter und Kurdenexperte der Uni Wien, Thomas Schmidinger, ist aber "wenig optimistisch", dass sich aus dem multiethnischen Staat unter der HTS ein "stark föderales Syrien" entwickelt. Gerade ist eine Delegation des kurdischen Militärbündnisses in Damaskus. "Das ist auf symbolischer Ebene eine wichtige Entwicklung. Allerdings haben die Kurden keine Freude daran, dass in der Regierung nur semitische, islamistische Männer sitzen, und keine Minderheiten repräsentiert werden," so Schmidinger.

Wird die HTS der kurdischen Autonomieregion Selbstverwaltungsrechte zugestehen? Oder schlägt sie sich auf die Seite der Türkei, die in der Kurdenmiliz einen Ableger der als Terrororganisation eingestuften PKK sieht und aus Angst vor einer Autonomiebewegung im eigenen Land Krieg gegen die Kurden führt?

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Syrische Kurden verbrennen die Fahne, die unter dem Assad-Regime als syrische Nationalflagge galt.

"Die HTS ist ohne Zweifel ein Bündnispartner der Türkei", sagt Schmidinger. Im Schatten der Machtübernahme der Islamisten haben die pro-türkische Syrische Nationale Armee (SNA) und Verbündete die kurdische SDF auf die Ostseite des Euphrats zurückgedrängt und die strategisch wichtige Stadt Manbij von den Kurden eingenommen. Über 100.000 Kurden sollen auf der Flucht sein; auch zu Kriegsverbrechen an den Kurden soll es gekommen sein – zu Folter und Hinrichtungen.

Allerdings betont der Experte die Eigenständigkeit der HTS: "Sie ist  keine Söldnertruppe der Türkei, hat ihre eigene politische Agenda, vertritt einen syrischen Nationalismus. Dieses Interesse an einer Eigenständigkeit Syriens könnte der kleinste gemeinsame Nenner für eine Einigung mit den Kurden und anderen Minderheiten  sein."

Gleichzeitig ist die kurdische Autonomieregion seit der Machtübernahme der islamistischen HTS auch von innen unter Druck geraten. "Die kurdische Selbstverwaltungszone umfasst auch einige arabische Stämme, die den Regimewechsel nutzen könnten, um die SDF loszuwerden. Wahrscheinlich ist, dass Gruppen auch von der Türkei oder den Islamisten manipuliert werden", glaubt Schmidinger.

Tausende IS-Kämpfer in Gefängnissen

Auch in Raqqa, wo es zu den Schüssen auf die Menschenmenge kam, gibt es eine starke Bewegung gegen die kurdischen Milizen. Die Stadt war einst Hauptstadt der Terrororganisation Islamischer Staat (IS), von hier aus regierte das "Kalifat". Erst 2017 gelang es der Kurdenmiliz mit den USA, die Stadt zu befreien.

Viele IS-Kämpfer leben hier nach wie vor – in zahlreichen Gefängnissen. Über 40.000 ehemalige IS-Kämpfer, ihre Frauen und Kinder werden hier festgehalten (im Gefangenencamp Roj sitzen auch zwei Österreicherinnen fest). Ein schwelendes Sicherheitsrisiko.

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Im Schatten der Machtübernahme der HTS kam es auch zu Kämpfen zwischen der pro-türkischen Rebellen und der SNA gegen die Kurdenmiliz. Viele Kurden flohen aufgrund der Kämpfe rund um Aleppo.

"In der Vergangenheit waren IS und HTS keine Verbündeten, sondern rivalisierende Gruppen. Dennoch findet man heute sowohl in den Reihen der HTS als auch in der von der Türkei unterstützten SNA ehemalige IS-Kämpfer", sagt Schmidinger. Immer wieder gibt es Befreiungsaktionen und Gefängnisausbrüche – nicht selten im Schatten von türkischen Angriffen auf das Kurdengebiet. Käme es wirklich zu einer Massenflucht ehemaliger IS-Kämpfer, könnte das zu einem Erstarken des IS  führen; Schmidinger nennt es ein "Worst-Case-Szenario, von dem ich nicht ausgehe, es aber nicht ausschließe" – und das nicht nur für die Kurden und ein stabiles Syrien, sondern eine globale Gefahr wäre. Denn nach wie vor leben in der Region verstreut IS-Zellen, die als politische Organisationen überlebt haben, "und darauf warten, dass sie wieder Gelegenheit bekommen, Kontrolle zu gewinnen", so der Politikwissenschafter.

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