Zwischen Alltag und Luftalarm: Das Leben in Israels nördlichen Geisterstädten
Randvoll ist der See Genesareth wie schon seit Jahren nicht mehr. Trotz der Sommerhitze grünt Galiläa, Israels Toskana, wie im Frühjahr. Die Sonne kennt keine Grenze zwischen Israel und dem Libanon. Sie scheint auf alle: Libanesen, Israelis, Soldaten, Terroristen, Bauern und Beamte.
Nicht aber auf Hunderttausende, die auf beiden Seiten der Grenze aus ihren bedrohten Häusern flüchteten. Gleich nachdem die schiitische Hisbollah-Miliz damit begonnen hatte, Israels Norden zu beschießen, aus Solidarität mit der islamistischen Hamas, die am 7. Oktober mit einem blutigen Überfall auf Israels Süden den Krieg eröffnet hatte.
Schon die Bäume machen klar: Hier stimmt etwas stimmt
Bis zur Autobahn leuchten rote Früchte aus den Obsthainen. Und schon ist klar: Hier stimmt etwas nicht. Bunte Früchte hängen in einer geregelten Landwirtschaft nicht an Bäumen. Sie liegen im Supermarkt. Große Teile der Ernte wurden in diesem Kriegsjahr nicht eingebracht. Es fehlen Arbeitskräfte. Felder liegen unter Beschuss.
Von 20 getöteten Zivilisten im Norden waren die meisten Bauern. Erst am Donnerstag wurde ein Ehepaar getötet. Im Auto auf dem Weg nach Hause, wo ihre drei Kinder warteten. Kaum jemand redet da noch gerne über Sachschäden. Trotzdem sind mehr als 12.000 Hektar Felder und Wälder nach Raketeneinschlägen verbrannt. Auch in Naturschutzgebieten.
Viele israelische Flüchtlinge nach einem neuen Zuhause
Nördlich des Sees Genesareth fließt der Verkehr dann, ohne die in Israel üblichen Staus. Doch die Straßen sind nicht mehr leer, wie kurz nach Kriegsbeginn. Im Kibbuz Amiad stehen Soldatinnen und Soldaten vor dem Kaffee-Kiosk an. Von den Zelten des „Flüchtlingslagers“ ist nichts mehr zu sehen. Evakuierte stellten sie vor einigen Monaten auf. Als Protest gegen die Untätigkeit der Regierung. Jetzt sind die Zelte vom Winde verweht.
Neun Monate sitzen die Evakuierten bereits in engen Hotelzimmern. Nicht wenige suchen schon nach einem neuen Zuhause. Auch der vorgesehen Rückkehrtermin zum Beginn des Schuljahres am 1. September wird wohl nicht einzuhalten sein. Obdachlosigkeit wird nicht leicht zur Routine.
Sollte es zum Krieg mit der Hisbollah kommen, wäre der Krieg in Gaza nur ein Vorgeschmack gewesen
Ofer kann das bestätigen. Er wartet vor dem Kiosk auf seinen Kaffee. Er wurde mit seiner Familie aus Kiriat Schmona nach Tiberias evakuiert. „Kinder brauchen doch eine geregelte Schule. Wir wollen deshalb in der Nähe der Schwiegereltern eine neue Wohnung suchen. Es sei denn, die Armee evakuiert die Hisbollah aus dem Libanon. Aber von dieser Regierung erwarte ich nichts mehr.“
Andere wollen noch weiter weg. Nicht nur in der US-Botschaft sind die Termine für Auswanderungswillige auf Monate im Voraus vergeben. Auch Menschen verweht der Sturm.
Ofer erwartet eine Bodenoffensive Israels gegen die Hisbollah im Libanon. Weder Israels Armee noch die Hisbollah wollen sie. Doch in der sich ständig zuspitzenden Lage könnte sie kommen. Was für beide - Israel wie den Libanon - ein Desaster wäre. Die bisherigen Kämpfe mit der Hamas im Gazastreifen wären im Vergleich dazu nur ein leichter Vorgeschmack.
Netanjahu legt sich mit dem jüngsten Bürgermeister an
Direkt auf dem Berg über Kiriat Schmona lauert die Hisbollah. Nur wenige der Einwohner blieben nach der Anweisung zur Evakuierung in der Stadt. Auch hier sind die Straßen leer. Noch leerer sind die Flure und Zimmer im Rathaus. Auch in diesem Grenzort waren es der Bürgermeister und seine Mitarbeiter, die den Alltag im Krieg so weit wie möglich am Laufen hielten.
In Kiriat Schmona ist Avichai Stern mit 38 Jahren einer der jüngsten Bürgermeister Israels. Er schaffte, was die Regierungsbehörden - im Süden wie im Norden - nicht bewegen konnten. Die Evakuierung wie das Essen auf Rädern, das auch an diesem Tag wieder zu nicht evakuierten Bedürftigen rollt.
Im Juni tauchte dann Premier Benjamin Netanjahu zu einem Blitzbesuch in der Stadt auf - und verschwand gleich wieder. Dem Bürgermeister sagte er nicht einmal kurz Schalom. Seinen Frust ließ Stern danach vor den Mikrofonen ab. Worauf Netanjahus Likud-Partei den direkt gewählten Bürgermeister entmachten wollte.
Der Versuch wurde vom Obersten Gericht erst einmal gestoppt. Premier Netanjahu (nicht direkt gewählt) will selbst „vor Kriegsende“ nicht abdanken. Hat aber trotz Krieg und Beschuss Zeit, den Sturz anderer einzuleiten.
"Im Hotel fällt mir die Decke auf den Kopf. Zu Hause könnte das wortwörtlich passieren."
Im Einkaufszentrum BIG vor der Stadt sind die Geschäfte geschlossen. Bis auf den Supermarkt und einen Elektronikladen. Schachar Levin empfängt hier auch nach neun Monaten unter Beschuss den stark geschrumpften Kundenandrang.
Vor acht Monaten hatte der damals noch Evakuierte für seine Standfestigkeit eine unpatriotische Erklärung: „Im Hotel fällt mir die Decke auf den Kopf.“ Mittlerweile wohnt er trotz Evakuierungsanweisung wieder zu Hause, im Nachbardorf Hagoschrim: „Auch wenn mir dort die Decke wortwörtlich auf den Kopf zu fallen droht.“
Die Straße entlang der Grenze zum Libanon liegt tagtäglich unter Beschuss. Doch ist sie nicht gesperrt. Im Kibbuz Sasa arbeiten die Werkstätten auf Hochtouren. Seine Bewohner sind eigentlich evakuiert, stehen aber tagsüber in der Fabrik des weltbekannten Rüstungskonzerns Plasan Sasa. Sie stellt Panzerungen für Kleinfahrzeuge her, zivile wie militärische.
„Die Nachfrage wächst ständig“, bestätigt Ronni, der in blauer Latzhose auf dem Parkplatz gerade eine Zigarettenpause einlegt. Er steht neben einer fabrikneuen „Migunit“: Ein kleiner Beton-Bunker, der bei Alarm schnell zu erreichen ist.
Beim ersten Luftalarm "erstarrst du erst einmal vor Schreck"
Weiter westlich liegt Maalot. Eine Stadt im Schatten der Bäume. Im Beth Elieser, dem Pflegeheim für Holocaust-Überlebende, ist neben Hebräisch auch Deutsch Umgangssprache. Die Gründer kommen aus dem pietistischen Schwarzwald, die freiwilligen Helfer aus dem ganzen deutschsprachigen Raum.
Balint Hecker (19) erinnert sich an seinen ersten Luftalarm am 10. Oktober: „Da erstarrst du erst einmal vor Schreck.“ Für länger im Heim Dienende ist es aber nicht der erste Alarm. Sie sind dann so was wie Vorbilder: „Auch bei angespannten Nerven kannst du ruhig bleiben. Später kommt dann noch so was wie ...“ - Er sucht nach dem passenden Wort - "Abstumpfung? Gewöhnung?"
Talitha Moser aus Graz arbeitet schon seit mehr als einem Jahr im Beth Elieser und will noch ein Jahr bleiben. Die Pflegebedürftigen im Krieg verlassen? Kommt für sie nicht in Frage. Um die 30 Helfer arbeiten hier. So gut wie alle sind geblieben.
Talitha ist eine bewusste Christin. Was hält sie hier, wenn Alarmsirenen heulen und der Donner der Einschläge unüberhörbar ist? Göttlicher Auftrag? Geschichtliche Verpflichtung? Sie zögert nur kurz mit ihrer Antwort: „Gott spricht zu mir auch aus der Geschichte.“
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