Eskalation? Im Libanon wächst die Angst vor dem "großen Krieg"

Die Hisbollah feuert vom Libanon aus - und Israel feuert zurück, hier auf eine Stellung im Süden des Libanon
Auf der Straße hupen die Autos, dazwischen geht ein älterer Mann mit verwelkten Blumen in der Hand. Er hält sie den Fahrern an die Fenster, doch die winken ab. Jeder braucht hier Geld, doch wert ist es kaum etwas: Die Inflation liegt bei mehr als 220 Prozent, Geld abheben funktioniert ohnehin nicht.
Seit Langem geht im Libanon viel schief, 2019 die Bankenkrise, ein Jahr später die Explosion am Beiruter Hafen. Geschätzt 85 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, die Libanesen sind im Schnitt gleich arm wie die geflohenen Syrer hier.
Und seit dem 7. Oktober ist hier alles noch einmal komplizierter: Seit die Hamas Israel angegriffen hat, lässt die Hisbollah im Südlibanon die Waffen nicht mehr schweigen, täglich fliegen Raketen über die Grenze. Und Israel schießt zurück, jeden Tag ein wenig mehr.
Zweite Front
Die drohende zweite Front, über die hier jeder spricht, die in den Medien zum „großen Krieg“ gemacht wird, hat auch Alexander Schallenberg hergeführt. Österreichs Außenminister war in Tel Aviv, Ramallah, Amman; jetzt steht er in Beirut neben seinem Amtskollegen Bou Habib.

Schallenberg mit Libanons Außenminister Bou Habib
Wie der auf Fragen antwortet, sagt viel über die Lage des Landes: Schallenberg spricht von „vernünftigen Kräften in der Region“, die eine komplette Eskalation verhindern könnten, Habib fühlt sich davon nicht wirklich angesprochen. Ob er, als Teil der Regierung, nicht auf die Hisbollah einwirken, sie zurückhalten könne? Keine Antwort.
„Im Libanon funktioniert keine der drei Gewalten“, sagt Rasmus Jacobsen vom Think Atlas Assistance in Beirut. Seit 2019 stolpert das Land von einer politischen Krise in die nächste; derzeit ist eine Interimsregierung rund um Premier Najib Mikati im Amt, die nur stark eingeschränkte Befugnisse hat, Präsidenten gibt es seit eineinhalb Jahren keinen.
Wahrer Machthaber
Der wahre Machthaber ist ohnehin seit Jahren ein anderer. Wenn Hassan Nasrallah, Generalsekretär der Hisbollah, zu den Libanesen spricht, leeren sich die Straßen; seine Drohungen flimmern dann über alle Bildschirme des Landes. Der 63-Jährige, der sich als direkter Nachkomme des Propheten Mohammed bezeichnet, hat in den vergangenen Jahren massiv an Einfluss gewonnen.
Seine Miliz, finanziert vom Iran, trainiert die Houthis im Jemen genauso wie die Hisbollah-Brigaden im Irak, selbst im Iran selbst sind seine Kämpfer mittlerweile Ausbildner. Und in der Regierung sitzen seine politischen Vertreter als Vetomacht; Reformen gibt es im Land deshalb nicht.
Ob es den „großen Krieg“ gibt, vor dem die Medien hier warnen, entscheidet Nasrallah. Seine Beliebtheit wuchs seit den Attacken der Hamas, nicht nur die Muslime in dem 18-Konfessionen-Land sehen ihn als alleinigen Verteidiger.
Die reguläre Armee hat gerade mal halb so viele Soldaten wie die Hisbollah; 130.000 Raketen umfasst das Arsenal der Miliz, um ein Zigfaches mehr als das der Hamas.
Selbst der Iron Dome der Israelis wäre damit heillos überfordert, sagt Jacobsen, ebenso wie die 10.000 Blauhelme, die seit 1978 an der Grenze stationiert sind.

Blauhelme an einem Ort, wo israelische Raketen einschlugen
UNIFIL
Die „United Nations Interim Force in Lebanon“ ‚, kurz UNIFIL, ist die Beobachtermission der UNO im Libanon. Die Blauhelme sind seit 1978 dort stationiert, damit ist sie eine der ältesten UN-Missionen
Bundesheer
Seit November 2011 beteiligt sich auch das Österreichische Bundesheer an der UNIFIL-Mission
180 Österreicher
sind für die Mission im Einsatz. Insgesamt zählt die Beobachtermission, die nicht aktiv in Kämpfe eingreifen darf, rund 10.000 Soldaten. Das ehrgeizige Ziel der Mission: Wiederherstellung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit
Sie sollen zwar offiziell dafür sorgen, dass dort niemand außer der libanesischen Armee patrouilliert, de facto können sie aber nicht mehr tun, als jede Hisbollah-Rakete zu dokumentieren. Aktiv einzuschreiten sieht das UN-Mandat nicht vor. „Das ist, als ob ein Zwerg versuchen würde, zwei Giganten aufzuhalten“, sagt Jacobsen.
"Brandgefährlich"
„Brandgefährlich“ sei die Lage, sagt Schallenberg, der in Beirut auch Premier Nadschib Miqati – einen der reichsten Libanesen übrigens – traf. Hoffnungslos sei er dennoch nicht: „Momentan habe ich das Gefühl, dass alles getan wird, um eine große Eskalation zu vermeiden“, sagt er.
Experte Jacobsen stimmt da zu: 98 Prozent des Beschusses spiele im Nahbereich der Grenze ab, derzeit sei der Konflikt noch „sorgfältig geregelt“ – jeder Beschuss ziehe eine gleichrangige Antwort nach sich. „Ich glaube nicht an einen großen Konflikt“, sagt er – solange zumindest keine Rakete daneben gehe.
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