In einem kargen Zimmer sitzt Naem auf einer Matratze und versucht vergeblich, eine Fliege zu verscheuchen. Seine Frau Khadija braucht noch einen Moment, sie muss ihren Schleier anlegen. Der Raum ist gründlich aufgeräumt. Alles soll perfekt sein, wenn die Gäste kommen. Möbel gibt es keine, nur einen kleinen Kasten, auf dem die restlichen Matratzen liegen. Auf dem Teppich hat das Paar Pralinen bereitgestellt.
Sofort bietet Khadija Kaffee an, als der KURIER sie an der Seite von Hilfsarbeitern des Roten Kreuzes in ihrer Unterkunft besucht. Dann setzt sie sich zu ihrem Mann, auf der grauen Plane hinter ihnen steht in blauen Buchstaben: UNHCR. Durch den Vorhang, der als Fenster dient, ist die Fliege inzwischen mit Verstärkung zurückgekehrt.
Seit dem Hamas-Angriff am 7. Oktober greifen sich Israels Armee und die schiitische Hisbollah-Miliz, die den Süden des Libanon kontrolliert, regelmäßig an. Mehr als 93.000 Menschen flohen im Libanon aus dem Grenzgebiet, in Israel waren es rund 80.000.
Daneben leben seit Jahren rund 1,5 Mio. syrische Flüchtlinge und ca. 500.000 palästinensische Flüchtlinge im Libanon, die ebenfalls auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
Die Inlandsflüchtlinge sind auf Hilfslieferungen angewiesen, das Libanesische Rote Kreuz stellt etwa medizinische Erstversorgung und Hilfsgüter bereit. Doch der Libanon steckt seit 2019 in einer schweren Wirtschaftskrise: Das libanesische Pfund hat seither um 93 Prozent an Wert verloren, 82 Prozent der Bevölkerung fallen unter die Armutsdefinition des Internationalen Roten Kreuzes.
Das Paar gehört zu den mehr als 90.000 Libanesen, die seit der jüngsten Eskalation im Nahost-Konflikt aus ihren Dörfern an der Grenze zu Israel fliehen mussten. In Tyros, knapp 20 Kilometer weiter nördlich, wurden sie gemeinsam mit Dutzenden weiteren Familien in einem alten Schulgebäude untergebracht. Ihr zehnjähriger Sohn Yusif wird dort tagsüber gemeinsam mit 270 anderen Kindern unterrichtet.
Vor sieben Monaten lebten sie ein anderes Leben
Auch die Unterkünfte waren einst Klassenräume, doch um Platz für mehr Familien zu schaffen, wurden sie mit grauen UNHCR-Planen in der Mitte geteilt und der Wohnraum verringert. Die Grundbedürfnisse seien zwar erfüllt, doch “es ist ein Leben ohne Würde”, klagt Khadija. “Wir haben hier keine Privatsphäre.” Naem lacht und deutet auf den grauen Stoff hinter seinem Rücken. „Wenn du hier furzt, werden die dort drüben wach.“
Früher lebte die Familie ein anderes Leben. Im Dorf kamen die Menschen zu Naem, um ihre Kühlschränke reparieren zu lassen. Reich war die Familie nicht, doch sie hatten genug, um Yusif in die Schule schicken zu können. Khadijas ganzer Stolz sei der Garten gewesen, sagt sie: „Ihr hättet ihn sehen sollen.“ Gerade einmal sieben Monate ist das her.
Dann kam der 7. Oktober - und kurz darauf die Bomben. In den Tagen nach dem Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung unterstützte die Hisbollah-Miliz, die im Südlibanon das Sagen hat, die Hamas mit Raketenangriffen auf Israel. Die israelische Armee schlug mit Luftangriffen zurück, dabei dürften auch völkerrechtswidrige Phosphorbomben zum Einsatz gekommen sein.
Bis heute halten beide Seiten einander mit regelmäßigen Angriffen in Schach, auch als Signal an die eigene Bevölkerung - eine völlige Eskalation scheint aber weder Israel noch die Hisbollah zu wollen. Unter den militärischen "Zeichen" leiden vor allem Zivilisten. Auch in Israel flohen 80.000 Menschen aus dem Grenzgebiet.
"Viermal haben sie unser Dorf zerstört"
Im Libanon haben die Menschen eine starke Meinung dazu, wer an diesem Krieg schuld ist. Das wird auch ohne Gespräche klar.
Auf der Fahrt von Tyros in die nördlich gelegene Großstadt Sidon säumen Flaggen die Autobahn auf beiden Seiten. Abwechselnd zeigen sie die rot-weiß-roten Farben des Libanon und das Gelb der Hisbollah. Vereinzelt sieht man dazwischen gekreuzte Säbel auf grünem Grund über der stilisierten Jerusalemer Al-Aksa-Moschee - das Symbol der Hamas.
In Sidon bewachen zwei Soldaten den Zugang zu einem Viertel, über dem eine schwere Stille liegt. Die Häuser hier sind alt, auf den Straßen streifen mehr Katzen als Menschen umher. Hinter einer schwarzen Tür im Erdgeschoss wohnt Familie Kassab.
Früher lebten sie von der Ernte ihres Bauernhofs nahe der israelischen Grenze. Doch als der Cousin des Familienvaters Khaled* bei einem Luftangriff getötet wurde, bekamen sie es mit der Angst zu tun - und kamen in der Wohnung seines Bruders in Sidon unter. Heute lebt Khaled dort mit seiner Frau Amal*, den drei gemeinsamen Kindern und Amals Vater Hussein*. “Uns geht es gut im Vergleich zu anderen“, sagt Khaled. „Wir danken Gott jeden Tag dafür.“
Doch das Geld ist knapp, die Familie wegen zweier chronisch kranker Töchter auf Hilfsorganisationen angewiesen. Sein Auto habe er verkaufen müssen, klagt Khaled, einen Job habe er im wirtschaftlich kriselnden Libanon auch nach 7 Monaten nicht finden können.
Sein 26-jähriger Sohn Ahmed trat deshalb der libanesischen Armee bei, erhält dafür knapp 130 Euro im Monat. Stationiert ist er ausgerechnet im Süden, an der israelischen Grenze. Wäre er der Hisbollah beigetreten, bekäme er wohl deutlich mehr. Die Miliz ist berühmt dafür, Familien gefallener Kämpfer zu versorgen. Mutter Amal sagt trotzdem: „Bei der Armee ist er sicher, deren Stellungen werden nicht beschossen.“
Hussein, der Großvater der Familie, nickt. In seinem traditionellen, grauen Gewand sitzt er neben seiner Tochter auf der Couch, sagt wenig und raucht viel. Bereits zum vierten Mal erlebt der 76-Jährige einen Konflikt zwischen Israel und bewaffneten Gruppen im Libanon. „Viermal haben sie uns vertrieben, viermal unser Dorf zerstört“, sagt er mit erhobenem Zeigefinger. „Jedesmal sind wir zurückgekehrt - und wir werden es wieder tun, notfalls im Sarg.“
Israel lässt Beerdigungen zu
Hussein meint das nicht sprichwörtlich. Im Südlibanon ist es üblich, die Menschen dort zu begraben, wo sie aufgewachsen sind. Trotz des Krieges ist das auch heute noch möglich. Stirbt jemand aus der Gemeinschaft, wendet sich die Familie an Hilfsorganisationen oder die lokale Regierung. Die sprechen mit der UNIFIL, der Friedensmission der Vereinten Nationen im Libanon, die wiederum mit der israelischen Armee vermittelt.
In der Praxis heißt das: Wenn jemand beerdigt werden muss, stellt Israel seinen Beschuss ein - und die Flüchtlinge können für ein paar Stunden zurück in ihre Dörfer. Naem, der in Tyros in der verlassenen Schule sitzt, nutzt so jede Gelegenheit, um nach Hause zu fahren. Hunderte Videos auf seinem Handy dokumentieren die Schäden in seinem Heimatdorf. Die meisten Häuser sind nur noch Schutt und Asche.
Khadija sagt trotzdem: „Wenn der Krieg heute endet, bin ich in einer Stunde wieder zu Hause.“ Der Satz bricht geradezu aus ihr heraus, mit einer Hand hebt sie die Matratze an, auf der sie sitzt: “Selbst, wenn ich im leeren Haus auf dem Boden schlafen muss!“
Nicht nur Khadija denkt so. "Wir haben in der Vergangenheit oft gesehen: Wenn sie die Freigabe bekommen, kehren diese Menschen sofort zurück. Sie sehen es als ihre Verantwortung, ihre Dörfer wiederaufzubauen", sagt Georges Kettaneh, der Generalsekretär des Libanesischen Roten Kreuzes. "Für die Politik ist es deshalb eine große Verantwortung, die Gebiete für sicher zu erklären."
Auch Großvater Hussein verließ die Wohnung in Sidon schon einmal für ein Begräbnis in seinem Heimatdorf. „Wunderschön“ sei das gewesen, zumindest für eine Stunde. Dann seien wieder Bomben auf den umliegenden Hügeln niedergegangen - Warnschüsse der israelischen Armee, um die Trauerfeiern zu beenden. Hussein schüttelt den Kopf und zieht an seiner Zigarette. Dann sagt er: „Die Rückfahrt war schrecklich. Es war, als müsste ich vom Himmel in die Hölle zurück.“
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