EU-Flüchtlingsdeal mit dem Libanon: Kann er halten, was er verspricht?
Man zähle auf eine "gute Zusammenarbeit bei der Verhinderung illegaler Migration und der Bekämpfung von Schleuserkriminalität", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstag in Beirut. Dafür erhält der Libanon bis 2027 rund eine Milliarde Euro; gedacht ist das Geld für den wirtschaftlichen Aufbau des Landes, aber auch für Polizei, Armee und Grenzschutz.
Nach der Türkei, Tunesien und Ägypten nun ein weiterer milliardenschwerer Flüchtlingsdeal zwischen der EU und einem Drittstaatenland. Kann er halten, was er verspricht? Der KURIER hat Antworten auf die drängendsten Fragen.
Was soll der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und Libanon bringen?
Ziel ist es, die Zahl der Flüchtlinge, die aus dem Libanon vor allem nach Zypern übersetzen und so in die EU gelangen, zu senken. Seit Wochen kommen an den Küsten des kleinen Inselstaats immer mehr syrische Flüchtlinge aus dem Libanon an. Seit Jahresbeginn wurden rund 4.000 Migranten gezählt – im ersten Quartal des Vorjahres waren es lediglich 78. Gemessen an seiner Einwohnerzahl gibt es nirgendwo in der EU so viele Asylanträge wie auf Zypern.
Wie viele Flüchtlinge befinden sich aktuell im Libanon?
1,5 Millionen Geflüchtete befinden sich im Libanon, der selbst nur 5,5 Millionen Einwohner hat – das ist ein Anteil von 27 Prozent und laut UN die höchste Flüchtlingsdichte der Welt. Die überwältigende Mehrheit davon sind Syrer, die aufgrund des Bürgerkriegs geflohen sind; nur etwa 14.000 Menschen stammen aus anderen Regionen.
Die Syrer leben laut UNHCR in extremer Armut. Sie dürfen keine festen Baustoffe für Häuser verwenden, die Regierung fürchtet, dass dauerhafte Siedlungen entstehen könnten. Innerhalb des Landes wird Stimmung gegen sie gemacht: Parteien machen sie zum Sündenbock für die schlechte wirtschaftliche Lage; in Beirut hängen Plakate des Innenministeriums, die zum Rauswurf der Syrer aufrufen. Tätliche Übergriffe häufen sich.
Anfang April wurde ein christlicher libanesischer Politiker von sieben syrischen Flüchtlingen getötet, das verstärkte den Hass. Ein weiterer Grund für die Abneigung: Der Anteil der syrischen Bevölkerung wächst verhältnismäßig schnell, sie bekommt im Schnitt mehr Kinder als andere Gruppen, das verschiebt die ohnehin komplizierte demographische Gemengelage. Posten und Macht werden in dem multiethnischen Staat nämlich zwischen Christen, Schiiten, Sunniten und Drusen proporzmäßig verteilt, in Summe gibt es 18 anerkannte Religionsgemeinschaften.
In welchem Zustand befindet sich das Land aktuell?
Wirtschaftlich ist die Lage desaströs: Das eigene Währungs- und Bankensystem ist nach einem Skandal um die Nationalbank zusammengebrochen, überall ist der Dollar als Schattenwährung im Umlauf. Investitionen sind so nur schwer möglich, was eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt hat, der Strom fällt dauernd aus, und die vom Iran gestützte Schiitenmiliz Hisbollah hat den Staat militärisch im Griff.
Schwierig ist die Lage im Libanon auch politisch, der Staat ist von Korruption zerfressen, eine teils kriminelle Machtelite hält die Fäden in der Hand. Derzeit gibt es nicht einmal ein Staatsoberhaupt. Seit eineinhalb Jahren scheitert die Wahl eines Präsidenten an Machtkämpfen, das Land wird von Ministerpräsident Najib Mikati geschäftsführend geleitet.
Droht eine Flüchtlingswelle wie 2015?
Diese Angst geht unter Helfern vor Ort tatsächlich um. Aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Lage im Westen bleiben immer mehr Hilfsgelder aus – das war auch 2015 der Grund, warum viele Geflüchtete ihre Koffer nochmals packten und gen Westen zogen. UNHCR und World Food Programme versorgen um ein Drittel weniger Familien als noch vor einem Jahr, viele Betroffene driften deshalb in die Obdachlosigkeit ab. Da docken Schlepper an und machen illusorische Versprechungen, was eine mögliche Zukunft in Europa betrifft – zurück nach Syrien können und wollen die meisten Syrer nicht.
Der libanesischen Politik kommt das zupass. Der UNO wird stets vorgeworfen, selbst das Problem zu sein, weil ihre Hilfe die Syrer nur dazu bringe, im Libanon zu bleiben. Sozialminister Hector Hajjar nannte die UN-Hilfen sogar einmal ein "Verbrechen" gegen sein Land.
Was sagen Experten zu dem Flüchtlingsdeal?
Judith Kohlenberger, Migrationsexpertin von der WU Wien, sieht es grundsätzlich positiv, "wenn der Globale Norden die unmittelbaren Aufnahmeländer unterstützt: Wir wissen, dass die meisten Flüchtlinge zuerst in Nachbarländer fliehen." Deswegen sei das Abkommen auch nicht mit dem umstrittenen Ruanda-Deal zu vergleichen: "Es ist etwas anderes, die Menschen in der Region zu halten, aus der sie kommen, und sie an einen Ort zu bringen, wo sie nie vorher gewesen sind und nie hinwollten", so die Expertin zum KURIER.
Im Gegensatz zu ähnlichen Flüchtlingsabkommen zwischen Albanien und Italien oder der EU und Ägypten, Tunesien und der Türkei handelt es sich beim Libanon um ein politisch und wirtschaftlich instabiles Land. "Die syrischen Flüchtlinge machen sich auf den Weg nach Europa, weil die Situation im Libanon untragbar ist. Ziel müsste sein, mit den EU-Mitteln die Situation der Flüchtlinge vor Ort zu verbessern."
Doch die Mittelverteilung ist unklar. Ohne engmaschige Kontrolle, wohin das Geld genau fließt, laufe die EU Gefahr, ein System mitzufinanzieren, "das mehr Fluchtursachen erzeugt anstatt diese zu bekämpfen" – und im schlimmsten Fall sogar Menschenrechtsverletzungen wie illegale Pushbacks zurück nach Syrien begeht.
Besser habe die Unterbringung syrischer Flüchtlinge etwa in Jordanien funktioniert, etwa im Camp Zaatari an der syrischen Grenze. Das Flüchtlingslager wird als viertgrößte Stadt des Landes gesehen, hat eigene Schulen und Gesundheitsversorgung. "Natürlich ist es nicht ideal, dass dort Generationen in einem Flüchtlingscamp heranwachsen", sagt Kohlenberger, doch zumindest hätten hier Mittelverteilung und der Aufbau von Strukturen funktioniert.
Wie erfolgreich waren vergleichbare Flüchtlingsdeals mit anderen Ländern?
Als der am besten funktionierende gilt jener mit der Türkei aus dem Jahr 2016. Für EU-Gelder von neun Milliarden Euro bis Ende 2023 nimmt das Land nach Griechenland Geflüchtete zurück. Erst vergangenen Monat stellte der Europäische Rechnungshof aber fest, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis eindeutig besser sein könnte. Die Zahlungen kämen aber zumindest den Flüchtlingen im Land zugute.
Gescheitert ist ein 900-Millionen-Euro-Deal mit Tunesien. Nach der Unterzeichnung 2023 kam es sogar zu einem starken Anstieg der Flüchtlingszahlen, dazu gab es laute Kritik. NGOs berichteten, dass tunesische Behörden Migranten an der Grenze zu Libyen ausgesetzt und gezwungen hätten, das Land mitten in der Wüste zu Fuß zu verlassen. Der EU-Deal sei kaum an Bedingungen geknüpft worden und garantiere keine menschenwürdige Behandlung, wurde bemängelt. Brüssel kürzte die Zahlungen erheblich, die Tunesien dann – nur wenige Monate nach Schließung des Deals – ablehnte.
Zuletzt versprach Brüssel dem wirtschaftlich schwer angeschlagenen Ägypten im März 7,4 Milliarden Euro, damit sich weniger Ägypter und Geflüchtete aus dem Sudan, Äthiopien und Eritrea auf den Weg in die EU machen.
Was fordern Experten?
Hilfsorganisationen fordern mehr humanitäre statt militärische Hilfe. Kohlenberger betont die Notwendigkeit einer engmaschigen Kontrolle. Die EU hätte mit derartigen Abkommen eigentlich einen Hebel in der Hand, vor allem was die humanitäre Situation der Flüchtlinge vor Ort angehe. Doch die EU ist aktuell "mehr in der Rolle der Bittstellerin, und fürchtet sich vor nichts mehr als der Ankunft von Schutzsuchenden. Das wissen natürlich auch die Drittstaaten für sich zu nutzen", sagt sie.
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