UNHCR-Vize: "Man wird nie alle Boote aufhalten können"

Zum 30-jährigen Jubiläum der Weltkonferenz über Menschenrechte ist die stellvertretende UNHCR-Hochkommissarin Gillian Triggs zu Gast in Wien. Wie sieht sie die geplante EU-Asylreform?
KURIER: Die EU dürfte sich auf einen neuen Asylpakt einigen – ein Erfolg?
Gillian Triggs: Es ist nicht ideal, aber ein wichtiger Kompromiss, der 27 Länder in einer sehr umstrittenen Frage zusammenbringt. Das Wichtigste ist eine Aufteilung der Verantwortlichkeiten: Die Länder an der EU-Außengrenze brauchen dringend Unterstützung.
Bis der Pakt umgesetzt wird, dauert es aber noch. Und auf die Länder an der EU-Außengrenze kommt die Herausforderung zu, die Aufnahmeeinrichtungen zu schultern.
Das ist einer gewissen Geografie geschuldet, die niemand ändern kann. Wir hoffen, dass in diesen Aufnahmezentren dann eine Art Priorisierung vorgenommen und geprüft wird, wer wirklich dringend Schutz braucht. Der Kerngedanke muss aber sein, dass jeder Mensch das Recht hat, Asyl zu beantragen.
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Die Australierin Gillian Triggs ist stv. Hochkommissarin des Flüchtlingskommissariats der UNO (UNHCR).
Dem UNHCR zufolge kommt der Großteil der Geflüchteten (über 100.000) nach wie vor aus Tunesien übers Mittelmeer – trotz Abkommen zwischen Brüssel und Tunis. Sind derartige Abkommen also nutzlos?
Sie sind eine Maßnahme von vielen. Es wäre aber naiv zu glauben, man müsse nur etwas an der Grenze zu Europa tun, dann würden die Menschen aufhören, zu kommen. Wir müssen die gesamte Reiseroute der Menschen betrachten: Sie kommen aus Syrien, Afghanistan und aus der durch Krieg, Klimawandel, Armut und korrupte Regierungen destabilisierten Sahelzone.
Was muss Europa also tun?
Wir brauchen eine Stabilisierung der Bevölkerung entlang dieser Routen, eine Zusammenarbeit mit Herkunftsländern, Entwicklungsbanken und Investitionen in gute Rechtsstaatlichkeit. Die Wahrheit ist, dass die meisten Menschen, die internationalen Schutz benötigen, in den einkommensschwachen Nachbarländern der Krisenregionen unterkommen, nicht in Europa. Aber die Stabilisierung von dieser Region ist keine schnelle Lösung.
Die EU ringt um einen Durchbruch beim Asylpakt. Dieser beinhaltet verstärkte Kontrolle und strenge Aufnahmeeinrichtungen an den EU-Außengrenzen. Die EU-Innenminister dürften die Reform Mitte Oktober beschließen. Dafür genügt eine "qualifizierte Mehrheit" (mind. 15 EU-Länder sowie mind. 65 Prozent der EU-Bevölkerung). Aktuell blockieren Polen, Ungarn und Italien: Die Regierung in Rom kritisiert, man sei bei der "Krisenverordnung" (den Regeln für den Notfall, wenn wieder einmal eine Flüchtlingswelle einen EU-Staat erreicht) zu nachgiebig gewesen.
186.000 Migranten kamen laut UNHCR seit Jahresbeginn über das Mittelmeer nach Europa – 83 Prozent mehr als im Vor-
jahreszeitraum. Der Großteil, über 100.000, startete die Überfahrt aus Tunesien. Mehr als 2.500 Migranten sind dabei gestorben – 2022 waren es halb so viele.
Was wir in Europa tun können, ist, unseren Blick auf Zuwanderung zu ändern: Viele europäische Länder haben alternde Gesellschaften und brauchen Arbeitskräfte in Bereichen, in denen gebildete Europäer nicht gerne arbeiten: Reinigung, Landwirtschaft, Baugewerbe. Dafür braucht es eine Verbesserung von legalen Migrationsmöglichkeiten. Die italienische Regierung etwa hat das bereits erkannt (Bis 2025 will Italien 450.000 Einwanderern eine Arbeitserlaubnis erteilen, Anm.)...
... und das, obwohl eine Rechtspopulistin regiert ...
Es ist ermutigend zu sehen, dass Ministerpräsidentin Meloni begreift, dass ihr Land Zuwanderung braucht. Wenn sich eine Regierung von extrem populistischen Ansichten abwendet, ergeben sich neue Möglichkeiten. Man wird nie alle Boote aufhalten können. Migration ist die Geschichte der Menschheit.
Was halten Sie von Obergrenzen?
Kein Land darf den Zugang zu Asyl verweigern, nur weil eine bestimme Quote bereits erreicht wurde.

Triggs im April 2023 in Kabul, Afghanistan.
Sollte die EU Länder bestrafen, die sich weigern, Geflüchtete aufzunehmen?
Aus unserer Sicht ist das kein effektiver Weg. Wir versuchen vielmehr, Regierungen zu überzeugen, dass gute Praktiken von Vorteil sind. Griechenland etwa war immer ein Transitland, das die Menschen so schnell wie möglich wieder verlassen wollten. Jetzt bleiben 50 Prozent der ankommenden Flüchtlinge dort, weil es Arbeit gibt und die Kinder zur Schule gehen können. Gleichzeitig löst die Regierung den Arbeitskräftemangel. Das gibt Hoffnung.
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Sie waren unlängst in Afghanistan. Wie ist die Lage dort?
Auf der einen Seite ist Friede eingekehrt, Krankenhäuser werden errichtet, Landwirtschaft betrieben, die Menschen können ihr Leben wieder aufnehmen. Auf der anderen Seite steht der Horror, dass Mädchen nach der Volksschule die weitere Bildung untersagt wird. Frauen müssen sich verschleiern und dürfen sich ohne Reisedokumente und ohne männliche Begleitung nicht im öffentlichen Raum aufhalten.
Es gibt aber auch einen starken Widerstand dagegen. In Dörfern werden Schulen in Privathäusern eingerichtet, in denen Mädchen weiter unterrichtet werden. Es ist eine schlimme Situation, daran besteht kein Zweifel, aber die Menschen finden Wege.
Aber könnte Afghanistan, wie von einigen Politiker gefordert, bald als sicheres Herkunftsland definiert werden?
Diese Forderung lehnen wir ab. Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland. Gleichzeitig werden wir unsere Arbeit dort fortsetzen. Würden wir nur mit demokratischen Regierungen zusammenarbeiten, hätten wir möglicherweise nicht allzu viele Optionen. Die Welt ist ein sehr komplexer Ort, und wir sind eine unpolitische, unparteiische humanitäre Organisation.
Sie haben gestern eine Einrichtung der Caritas besucht. Wie beurteilen Sie die Flüchtlingsarbeit in Österreich?
Österreich hat ein funktionierendes Asylsystem mit einem sehr guten, unabhängigen Justizsystem, das fair beurteilt, ob jemand Anspruch auf Flüchtlingsstatus hat. Wir haben eine Wohngemeinschaft besucht, wo österreichische und unbegleitete Flüchtlingskinder, vorwiegend aus Afghanistan und Syrien, gemeinsam betreut werden. Das ist ein sehr gelungenes Konzept, das ideal für alle unbegleitete Flüchtlingskinder wäre. Sie gehen in die Schule, müssen Hausaufgaben machen und spielen, so wie andere Kinder auch. Einige von ihnen sprechen bereits fließend Deutsch und sehen eine Zukunft hier.
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