Von einer politischen Wende ist die Rede, wenn Politiker gezwungen sind zu tun, was sie nicht tun wollen. Demnach ist Israel derzeit noch weit von einer Wende entfernt. Trotz des blutigen Überfalls vom 7. Oktober 2023 mit 1.200 Toten, 250 Geiseln und einem Krieg, der auch nach acht Monaten entscheidungslos auf der Stelle tritt.
Keine Feuerpause
Mit guten Aussichten, sich zu einem Mehrfrontenkrieg auf ganz Nahost auszuweiten. Israels Regierung tut was sie will. Auch gegen den Willen der Öffentlichkeit. So stellt die Zeitung Haaretz das politische Handeln von Premier Benjamin Netanjahu unter die Maxime: „Je länger der Krieg, desto mehr geraten seine Ursachen in Vergessenheit.“ Darum verweigert er seine Einwilligung in eine endgültige Feuerpause.
Selbst wenn dies einen Austausch der israelischen Geiseln im Hamas-Gewahrsam mit verurteilten Hamas-Terroristen erleichtern könnte. Auch Israels Armeeführung sowie die Mehrheit der Israelis würden einem Abzug zustimmen. Für die Armee ist die Zerschlagung des militärischen Arms der Hamas so gut wie erreicht. Die politische Lahmlegung der Hamas im Gazastreifen ist Aufgabe der Politik. Die Armee will nicht im Sumpf eines Abnutzungskrieges versinken, die US-Diplomaten wollen eine regionale Ausweitung des Krieges verhindern.
Geheimdokument
Israels Medien sehen im Zaudern und Aufschieben auch einen Versuch Netanjahus, sich aus der Verantwortung zu stehlen und das Versagen vom 7.10. vor allem auf die Armee abzuwälzen. Diese weicht einem offenen Streit mit dem Premier aus. Doch just zu Wochenbeginn enthüllte der Sender Kan 11 ein bislang unbekanntes Schreiben des militärischen Geheimdienstes. Zwei Wochen vor dem 7.10. warnte es vor dem Überfall – mit überraschend genauen Vorhersagen der Folgen. So wurde die Zahl der möglichen Geiseln „auf 200 bis 250“ geschätzt. Da wurde ein Warnsignal übersehen.
Von den Militärs allein? In wenigen Wochen will die Armee eine „Bilanz der bisherigen militärischen Erfolge“ vorlegen. Auch das ist wohl gegen den Versuch gerichtet, die Weiterführung der Kämpfe als „alternativlos“ darzustellen. Eine Darstellung, die Netanjahu aber will – und die letztlich auch der Grund für die Auflösung des „Kriegsforums“ am Sonntag war. Durch dessen Gründung gleich nach Kriegsausbruch holte Netanjahu angesehene Politiker aus der Opposition in seine Notstandsregierung.
Neues Polizeigesetz
Netanjahu will jetzt ein enges Beraterforum aus Experten halten. Das 36-Minister-Kabinett will er wie bisher nur abstimmen lassen, wenn es ihm passt. Etwa bei Fragen zu einem Kriegsende. Das Mammut-Kabinett aber darf weitermachen, wenn es um die direkten Interessen der Koalitionsparteien geht. Am Dienstag begann vor dem Obersten Gericht eine Verhandlung zum neuen Polizeigesetz. Dem ultra-rechten und offen rassistischen Minister Itamar Ben Gvir soll es die Einmischung in die operative Polizeiarbeit erlauben. Bis hin zu Vernehmungen und Ermittlungen. Oder Schlagstockeinsatz gegen protestierende Demonstranten.
Spaltung droht
Gleich zu Beginn der Verhandlung stellten die Richter Fragen zur „drohenden Gefahr für die Bürgerrechte“. Am Sonntag schon wurden im Kabinett der Ausbau von Siedlungen und Strafmaßnahmen gegen die Palästinensische Autonomieverwaltung beschlossen.
Alles Schritte, die zur Beunruhigung der Kriegslage beitragen können. Beunruhigt sind aber auch vermehrt Politiker aus den unteren Rängen der Koalitionsparteien.
Tomer Glam, Bürgermeister der unter Beschuss stehenden Stadt Aschkelon, rief am Dienstag den Abgeordneten zu: „Täglich muss ich Gefallene aus meiner Stadt beerdigen. Da lasst ihr euch nicht sehen. Ich habe einfach keine Zeit mehr für euren Tüddelkram hier.“ Die Spaltung, die Netanjahu in seiner Koalition verhindern will, droht jetzt seiner Partei.
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