"Die Linken gehen einen faustischen Pakt mit den Islamisten ein"
Für ihn ist der Globale Süden ein Bluff, Saudi-Arabien eine kommende Supermacht – und der 7. Oktober 2023 in seinen Auswirkungen verheerender als der 11. September 2001. Der renommierte Sozialwissenschafter und Fachmann für Islamismus Gilles Kepel sieht Europa als die schwächste der internationalen Mächte.
Der KURIER traf ihn am Rande einer Konferenz des „Intelligence College in Europe“, durchgeführt von der österreichischen Intelligence Community (KSN).
KURIER: Am 7. Oktober massakrierten die Terroristen der Hamas mehr als 1.200 Menschen, sieben Monate später erkennen drei weitere europäische Länder Palästina als Staat an – wie passt das für Sie zusammen?
Gilles Kepel: Die Frage der Zweistaatenlösung und des israelisch-palästinensischen Konflikts ist nicht neu. Sie wurde mit gleicher Kraft und Wut torpediert, sowohl vom Likud auf der einen Seite als auch von der Hamas auf der anderen. Und schließlich unter Donald Trump, als er Präsident war, und nachdem die Neokonservativen in der Bush-Regierung der Meinung waren, dass der Oslo-Prozess der Sicherheit Israels abträglich sei. Man war der Meinung, dass durch die Abraham-Abkommen ein gewisser Wohlstand und dass insbesondere der Gazastreifen dadurch einen gewissen Wohlstand genießen würde, so dass die Palästinenser aufhören würden, über einen Staat nachzudenken. Gleichzeitig tragen auch die Palästinenser durch die Zweite Intifada Verantwortung, den Oslo-Prozess torpediert zu haben.
Niemand, mich selbst eingeschlossen, dachte, die Hamas würde ohne Befehl von Teheran einen Finger rühren und diesen massiven Angriff starten. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Die meisten Akteure sehen in der Anerkennung eines palästinensischen Staates die einzige Möglichkeit. Ich sehe das nicht als Geschenk für die Hamas. Es ist auch ein großer Unterschied zu einem Waffenstillstand. Gäbe es diesen und die Geiseln würden nicht freigelassen, gäbe man der Hamas einen Punkt. Aber es passiert das Gegenteil. Dieser Prozess wird dazu führen, dass weder Hamas noch Likud am Ruder sein wird.
Inwiefern?
Karim Khan (Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Anm.) hat nicht nur Netanjahu, dessen Verteidigungsminister Yoav Gallant und Sinwar angeklagt, sondern auch Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri und – wichtiger – Ismail Haniyeh (Chef der Hamas). Damit könnte nicht nur der militärische Flügel der Hamas als Organisation gegen die Menschlichkeit verfolgt werden, sondern die ganze Organisation. All das geschieht zu einer Zeit, in der Biden die US-Präsidentschaftswahl nicht gewinnen kann, wenn Netanjahu zu diesem Zeitpunkt noch im Amt ist.
So leicht wird es Netanjahu Biden aber nicht machen
Natürlich, aber jemand, der eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit beschuldigt wird, befindet sich in einer geschwächten Position. Und das wird seinen Gegnern helfen, ihn loszuwerden und eine andere Koalitionsmöglichkeit zu finden. Israel kann nicht alleine überleben. Die Israelis sind stark im Erfinden, aber können nicht in ausreichender Zahl produzieren. Israel braucht die Unterstützung der USA – und es ist nicht sicher, dass sie darauf warten können, bis Trump wiedergewählt wird.
Was wird Ihrer Einschätzung nach bis zu US-Wahl geschehen?
Es ist schwer, Schlüsse zu ziehen, nachdem vieles abseits der Öffentlichkeit geschieht. Aber als älterer Herr, der ich bin, kann doch ein paar Dinge entziffern. Dass mit dem Tod Ebrahim Raisis und dessen Außenminister – ob nun gezielt oder durch höhere Macht – die Islamische Republik Iran geschwächt ist, zwischen Saudis und USA verhandelt wird, Netanjahu und die Hamas-Führung angeklagt werden sollen – all das ergibt ein ziemlich kohärentes Puzzle.
Wie beurteilen Sie die Rolle Saudi-Arabiens?
Saudi-Arabien wird eine der Supermächte, die die USA nicht leichtfertig vor den Kopf stoßen können, wie es Biden zu seinem Amtsantritt gemacht hat. Ich habe Mohammed bin Salman vergangenes Jahr in Paris getroffen und mit ihm über die Abraham-Abkommen gesprochen. Er meinte, er habe nichts gegen eine Anerkennung Israels als Staat, denn man würde davon stark profitieren. Aber Riad würde nichts tun, bevor es nicht einen palästinensischen Staat gibt. Nicht dass die Saudis die Palästinenser lieben würden, aber sie haben, denke ich, die Situation richtig beurteilt, dass es ohne palästinensischen Staat zu einer politischen und militärischen Explosion kommen wird.
Sie sprechen von einer Supermacht. Gleichzeitig fehlt es an substanzieller militärischer Macht, die zwar am Papier vorhanden ist, am Feld aber nicht. Man hat so ziemlich jeden Stellvertreterkrieg gegen den Iran verloren. Wie kommen sie zu Ihrem Schluss?
Ihr Reichtum ist unglaublich und es finden massive Umwälzungen im Land statt. Sie haben Recht, sie sind nicht in der Lage, ein schlagkräftiges Militär zu bilden. Das können nur die nichtarabischen Muslime in der Region – der Iran und die Türkei. Dennoch – sie verfügen über massiven Reichtum und sind die einzigen, die für einen etwaigen palästinensischen Staat zahlen können. Das ist ein ziemlich mächtiges Faustpfand, das sie sich für den richtigen Zeitpunkt aufsparen. Derzeit könnte kein arabischer Partner westlicher Staaten aus dem Schatten treten, ohne als Kollaborateur gebrandmarkt zu werden.
In Ihrem neuen Buch „Holocaustes“ argumentieren Sie, dass der 7. Oktober in seiner Wirkung stärker war als der 11. September, weil zum einen die westliche Gesellschaft massiv gespalten ist und zum anderen die muslimische Solidarität mit der Hamas öffentlich und breit ist. Was sind die Gründe dafür? Ist die westliche Gesellschaft fragmentierter geworden?
Es geht zuerst einmal um die Grundsatzfrage, wie man einen legitimierten, demokratischen Staat wie Israel und eine Hamas, die im Westen als Terrororganisation gesehen wird, gleichsetzen kann. Der sogenannte Globale Süden sieht darin keine Terrororganisation. Ebenso die Päpstin der Woken, Judith Butler, die lesbisch und jüdisch ist und meinte, der 7. Oktober sei ein Akt des Widerstands. Das treibt einen Keil in den Westen oder „Globalen Norden“. Im Gegensatz zum 11. September, wo die westliche Solidarität mit den USA stark war. Nun sehen all die Woken und Anti-Kolonialisten den „Norden“, repräsentiert von Israel. Plötzlich wird die Tatsache, dass an den Juden der schlimmste Genozid der Menschheit verübt wurde, mehr oder weniger ignoriert. Das sei in den 40ern passiert und eine Sache zwischen Weißen gewesen. Das ist der Bluff des „Globalen Südens“.
Ein Bluff, den nicht nur propalästinensische Studenten, sondern auch ein Wladimir Putin anwendet.
Es ist wirklich erstaunlich, wie erfolgreich etwas ist, das schlichtweg nicht existiert. Der „Globale Süden“ vereint Staaten, die mehr Gegensätze als Kooperationen haben. Wie etwa China und Indien, Ägypten und Äthiopien. Iran und Saudi-Arabien.
Dennoch beeinflusst dieser Begriff auch die europäische Politik und Gesellschaft.
Es scheint als würden die moralischen Fundamente ab 1945 zerstört und die Welt neu geordnet. Das führt zu einer Zeit der Unordnung – und die EU ist die schwächste der internationalen Mächte, denn sie hat keine Verteidigungskräfte. Und selbst in puncto Sicherheit steht man nicht zusammen. Radikale islamistische Bewegungen werden vor allem in der Jugend, die von Geburt österreichisch oder französisch wäre, aktiv. Diese Radikalisierung ist ein massives politisches Thema. Gleichzeitig gehen die Linken einen faustischen Pakt mit den Islamisten ein, während die Rechtsextremen immer stärker werden. Plötzlich wählen die Kinder von Freunden und Bekannten die Rechtsextremen. Etwas, das ich früher nie für möglich gehalten hätte. Es findet eine massive Polarisierung in unserer Gesellschaft statt, die es nach dem 11. September nicht gab. Wohl aber nach dem 7. Oktober.
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