Krisen und Kriege überall: "Wir sind mitten in einem geopolitischen Umbruch"
Die Welt scheint derzeit so gebeutelt wie lange nicht mehr. Die USA wollen nicht mehr Weltpolizist sein, erkaltete Konflikte werden plötzlich brandgefährlich. Sicherheitsexperte Walter Feichtinger erklärt, was das für Europa heißt.
In Israel sprechen manche vom „Holocaust im Heiligen Land“, die Panzer rollen Richtung Gaza. In der Ukraine ist kein Ende des Kriegs in Sicht, und auch im Kosovo, in der Sahelzone, im Kaukasus kann keine Rede von Friede sein. Droht ein neuer Flächenbrand?
Walter Feichtinger, Politikwissenschaftler, ehemals Bundesheer-Brigadier und jetzt Leiter des Centers für strategische Analysen, erklärt, was diese Konflikte verbindet – und ob dahinter Interessen großer Player stehen.
KURIER:Ukraine, Israel, Kosovo, die Sahelzone: Gibt es einen Zusammenhang zwischen all den Eskalationen?
Walter Feichtinger: Ja, den gibt es. Wir sind mitten in einem geopolitischen Umbruch: Das, was bisher das Korsett für Sicherheit weltweit war, gilt nicht mehr. Bis in die beginnenden 2000er-Jahre waren die USA Weltpolizist. Daran kann man viel kritisieren, dennoch haben die USA fast an allen Punkten der Welt für eine gewisse Ordnung gesorgt. Heute gibt es mit China einen zweiten starken Akteur. Peking hat kein Interesse daran, selbst diese Rolle zu übernehmen, oder dass Washington im Pazifikraum die Polizistenrolle einnimmt.
Es überrascht also nicht, dass überall Konflikte auftauchen. Die waren bisher verdeckt, weil die Akteure anderweitig gebunden waren: China und Russland waren mit sich selbst beschäftigt, die EU ist es immer noch. Europa spürt besonders, dass die einstige Ordnungsmacht fehlt.
Werden sich die USA noch weiter vom globalen Parkett zurückziehen, wenn Trump wiedergewählt wird?
Ich gehe davon aus. Trump hat den Rückzug jedoch nicht begonnen, das war schon Barack Obama vor ihm – die USA hatten unglaublich hohe Kosten in Afghanistan und im Irak zu tragen, und dabei nur bescheidenen Erfolg. Wenn daheim die Infrastruktur im Argen liegt, muss man abwägen, wie viel man außenpolitisch investiert.
Gibt es bei all diesen regionalen Konflikten große Player im Hintergrund, die das befeuern? Oder nutzen die kleineren Akteure einfach die Gelegenheit?
Es ist schwierig zu erkennen, was tatsächlich passiert, und was Verschwörungstheorien sind. Aber Iran etwa spielt im Nahen und Mittleren Osten definitiv eine zentrale Rolle, Teheran unterstützt die Hisbollah, die Hamas, die Huthi-Rebellen im Jemen. Iran hat großes Interesse, die USA zu schädigen, sie aus der Region zu verdrängen, und zeitgleich Widersacher Saudi-Arabien nicht zu stark werden zu lassen. Es ist ein Match zwischen zwei regionalen Akteuren, bei dem viele Handlanger dabei sind, die glauben, alles allein entscheiden zu können – in Wirklichkeit sind sie aber natürlich abhängig von größeren Mächten. Auch Russland ist da zu erwähnen, das einerseits als Ordnungsmacht im Raum der ehemaligen Sowjetunion deutlich an Einfluss verloren hat – siehe Bergkarabach – und andererseits alles unternimmt, um etwa den Stabilisierungsprozess auf dem Westbalkan zu unterlaufen.
Verfolgt China – die zweite Weltmacht neben den USA – auch Interessen im Nahen Osten?
China hält sich aus Konflikten so weit wie möglich heraus, verfolgt seine Interessen eigentlich nur über wirtschaftliche Bande. Damit hat Peking großen Erfolg, weil es politische Abhängigkeiten erzeugen kann. Zuletzt hat China aber versucht, auch als Vermittler aufzutreten – einerseits in der Ukraine, andererseits im Nahen Osten. Dass China ein Treffen zwischen den Feinden Saudi-Arabien und Iran vermittelt hat, sorgte für Aufsehen. China befeuert aber sicher keine Konflikte. Im Gegenteil, es hat Interesse an Stabilität, weil jede Instabilität die Entwicklung Chinas auf dem Weg Richtung 2049 behindert, wo es endgültig Supermacht sein möchte.
USA: Mit dem schrittweisen Rückzug aus dem Nahen Osten und dem Abzug aus Afghanistan beschleunigte sich eine Entwicklung, die bereits seit den späten Nullerjahren andauert: Der ehemalige Weltpolizist will und kann sich eine globale Präsenz nicht mehr leisten – und das Vakuum füllen andere wie etwa China.
Russland: Seit der Invasion der Ukraine ist das größte Land der Welt wirtschaftlich vom Westen abgeschnitten, global vernetzt ist Putin aber nach wie vor. Die zweitgrößte Nuklearmacht der Welt wird von China gestützt, kooperiert mit Iran, der globale Süden ist Moskau gegenüber neutral – das hilft Putin auch.
China: China war außenpolitisch lange kein Player, unter Präsident Xi hat man aber vor allem im Pazifikraum an Selbstbewusstsein zugelegt. Peking sieht sich mit dem geschwächten Partner Russland als Gegenpol zu den USA. Den Konflikt mit Taiwan, das ja Washington im Rücken hat, könnte Peking jederzeit eskalieren lassen.
Spielt die Annäherung zwischen den Rivalen Iran und Saudi-Arabien eine Rolle in der aktuellen Eskalation?
Ja. Eine der großen Befürchtungen ist, dass die Gespräche zur Eskalation geführt haben, weil sich die Palästinenser dabei als Verlierer sehen. 2020, als das Abraham-Abkommen unterzeichnet wurde – der Friedensvertrag zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten –, tauchte erstmals die Furcht auf, die Palästinenser würden nun von der arabischen Gemeinschaft fallen gelassen oder gar geopfert. Jetzt haben wir mit der Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Iran die nächste Phase, beide Länder sollen auch in die BRICS-Gemeinschaft aufgenommen werden. In den Palästinensergebieten haben deshalb die Alarmglocken geschrillt – möglicherweise ist man aktiv geworden, um diesen Prozess zu torpedieren.
In der Ukraine geht die Angst um, dass man wegen der Nahost-Eskalation vergessen wird. Ist das gerechtfertigt?
Diese Angst ist sicher berechtigt. Die Kontingente der USA sind begrenzt, und Kiew zittert ohnehin schon, weil es Widerstände durch die Republikaner gibt – zudem hängt das Damoklesschwert der Trump-Wiederwahl über der Ukraine. Wenn die USA sich entscheiden müssten, wer gewisse Waffensysteme oder Munition bekommt, dann ist das zweifellos Israel.
Indien: Der Subkontinent stand lange stets im Schatten Chinas, mittlerweile ist Indien das bevölkerungsreichste Land der Welt – und nicht mehr regionaler Player, sondern Sprachrohr des globalen Südens. Die Nuklearmacht hat in Kaschmir einen ungelösten Grenzkonflikt mit Pakistan und China, der immer wieder aufflammt.
Europäische Union: Noch vor wenigen Jahren rühmte sich die Europäische Union ihrer „Soft Power“ – mittlerweile ist ihr Einfluss in der Weltpolitik enden wollend. Auch mit der Unterstützung der Ukraine ist Brüssel überfordert. Selbst die Rolle als Vermittler, wie etwa zwischen Armenien und Aserbaidschan, war erfolglos.
Türkei: Immer wieder versucht Ankara, in Nordsyrien weiter Fuß zu fassen, regelmäßig werden Militäroperationen gegen syrische Kurden gestartet. Gleichzeitig hat die Türkei ein breites Netzwerk in Afrika und dem Nahen Osten gesponnen und so an Einfluss gewonnen. Die Türkei stellt die zweitgrößte NATO-Armee.
Es hieß immer, die USA als Supermacht müssten militärisch in der Lage sein, einen Regionalkonflikt und einen großen Krieg führen zu können. Stimmt das noch?
Diese Faustregel besteht nach wie vor. Allerdings ist der große Krieg für die USA sicher nicht der in der Ukraine – für Washington ist das ein kleiner Konflikt. Der Fokus der militärischen Planungen liegt sicherlich im südchinesischen Meer, wo ein großer Konflikt denkbar ist.
Die Ukraine ist allerdings schon eine relativ große Herausforderung, wenn mit Israel ein zweiter Konflikt dazukommt, belastet das die Ressourcen erheblich. Die USA verfügen auch nicht über unendliche Vorräte, sondern müssen Waffen und Munition erst mühsam produzieren oder zukaufen.
Wie groß schätzen Sie die Gefahr eines Flächenbrandes im Nahen Osten ein?
Es wäre sicher im Interesse der Hamas, wenn Israel auch an anderen Stellen angegriffen würde. Und Israel stellt sich mit der Mobilmachung von etwa 360.000 Soldaten auch darauf ein. Bis auf einige Raketen aus dem Südlibanon ist aber bislang keine weitere Eskalation zu erkennen. Mit der Positionierung eines Flugzeugträgers haben die USA ihre Bereitschaft, Israel zu unterstützen, eindrucksvoll dokumentiert. Vermutlich reicht diese Drohgeste im Zusammenwirken mit dem Vorgehen Israels, einen Flächenbrand zu verhindern.
Moskau hat sich als Vermittler im Nahen Osten angeboten, hat aber auch eigene Interessen. Wie ernst kann man das nehmen?
Ich würde das nicht unterschätzen. Jeder Versuch der Vermittlung ist hilfreich – das zeigt, dass internationales Interesse besteht, die Lage nicht eskalieren zu lassen. Man muss aber abwarten, inwieweit die Hamas überhaupt verhandlungsbereit ist. Ich kann mir vorstellen, dass sie in der jetzigen Phase ohnehin nur erpressen will.
Iran: Iran baute im vergangenen Jahrzehnt seine Präsenz in der Region stark aus, verfügt über eine direkte Verbindung zur libanesischen Hisbollah und gilt als Terrorsponsor der Hamas. Den Machtkampf mit Saudi-Arabien konnte Iran vor allem in Syrien, aber auch im Irak mehr oder minder für sich entscheiden.
Saudi-Arabien: Kronprinz Mohammed bin Salman baut die Monarchie um, investiert Milliarden in die Unabhängigkeit vom Öl, verpflichtet prestigeträchtige Fußballer wie Ronaldo und knüpft Bande mit Erzfeind Iran. Von den USA hat man sich abgewandt, wichtigster Handelspartner ist China, die Annäherung an Israel ist vorläufig gestoppt.
Japan: Das lange als pazifistisch geltende Japan rüstet derzeit massiv auf, investiert unter anderem in Hyperschallraketen, Gegenschlagraketen und in die Modernisierung seiner Selbstverteidigungskräfte. Als Grund dafür wird vor allem die steigende Bedrohung aus China und Nordkorea genannt.
Afrika: In der Sahelzone folgte zuletzt ein Putsch dem anderen. Die einstige Kolonialmacht Frankreich hat sich zurückgezogen, Militärdiktaturen entstanden, die Region ist Epizentrum des Dschihadismus. Großen Einfluss haben Russland – es liefert Waffen und die Wagner-Truppen beuten Bodenschätze aus – und China als Handelspartner.
Die EU ist im Nahen Osten nur Zuschauer. Wie sehen die Zukunft der Union?
Ich bin ein heilloser Optimist, auch was die EU betrifft. Wir brauchen eine starke Union, um in diesem geopolitischen Konzert zu bestehen, um Europa nicht zum Spielball für die anderen werden zu lassen. Allerdings sind die Möglichkeiten Brüssels sehr begrenzt – ich bedaure, dass auch in dieser kritischen Phase die Sprache der Geopolitik nicht besser gesprochen wird. Denn Übungsmöglichkeiten hätte es seit 2014 wahrlich genügend gegeben. Die zentrale Frage ist, ob die EU irgendwann militärische Kapazitäten hat. Als Großmacht kann man nur auftreten, wenn man politische, wirtschaftliche und militärische Ressourcen zur Verfügung hat – und auch bereit ist, diese einzusetzen.
Woran scheitert das? Am Nationalstolz mancher Staaten – oder auch an Neutralen wie Österreich?
Die Gründe sind strategische Kurzsichtigkeit in vielen Hauptstädten, nationale Egoismen der Extraklasse – und ein Verkennen der Realität sowie der aktuellen Situation und Dynamik. Das gilt auch abseits globaler Konflikte: Europa muss endlich munter werden – wir müssen in der Bildungspolitik, in puncto Arbeit und Versorgung, aber auch im militärischen Bereich und bei der politischen Entschlossenheit einfach zulegen – sonst gehen wir unter. Wir haben eine Dekade vor uns, in der sich global vieles entscheiden wird. Für Europa brennt der Hut – und es wäre höchste Zeit, dass die Hauptstädte das erkennen und an einem Strang ziehen.
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