Albtraum der Frontsoldaten: Wenn der Tod aus der Luft kommt
Ein Summen und Brummen zerschneidet die Luft, als ob ein Schwarm blutrünstiger Moskitos auf der Jagd wäre. Ganz falsch ist dieser Eindruck nicht – denn der nervenaufreibende Lärm stammt von einer tödlichen Waffe, die bereits jetzt die Kriegsführung revolutioniert: Einer FPV-Drohne. Diese „First-Person-View“-Flugobjekte, an denen Sprengkörper befestigt sind, übertragen mit ihren Frontkameras ihre Sicht direkt auf die speziellen „Virtual-Reality“-Brillen ihrer Piloten, die sie steuern, als ob sie selbst die Drohne wären. Tag für Tag veröffentlichen russische wie ukrainische Kanäle Videos von erfolgreichen FPV-Attacken auf Soldaten, Fahrzeuge und Panzer.
Vier Tage an der Front
In diesem Fall ist es „Potter“, der die Drohne lenkt – ein junger Soldat der ukrainischen Streitkräfte, der seinen freien Tag nutzt, um an einer höheren Reichweite seiner Drohnen zu tüfteln. „Wenn wir es irgendwann schaffen, die russische Artillerie mit unseren Drohnen auszuschalten, ist viel gewonnen“, sagt er.
Seinen Kampfnamen hat der hagere Bursche unter anderem einer Narbe an der Stirn zu verdanken. „Aber auch, weil ich mit meinen Drohnen ein Zauberer bin. Das sagen zumindest meine Kameraden.“
Vier Tage am Stück ist Potter an der Front, lenkt in dieser Zeit im Schnitt einhundert Drohnen gegen russische Ziele. „Wir sind sehr nahe an der Kontaktlinie. Es kann schon vorkommen, dass die russische Infanterie versucht, unsere Stellung zu erobern. Aber dafür habe ich das“, sagt er und zeigt auf sein Sturmgewehr.
Dass Drohnenpiloten ein begehrtes Ziel sind, ist klar – angesichts ihrer Bedeutung: FPV-Drohnen sind aus ukrainischer Sicht eine der Chancen, die materielle Unterlegenheit auszugleichen.
Während das Verhältnis in puncto Artilleriegranaten bei etwa 1:10 zugunsten Russlands liegt, herrscht im Bereich der Drohnen und Drohnenabwehr ein ständiger „Wettbewerb“. Mittels elektronischer Kampfführung sollen Signale gestört, feindliche Drohnen im besten Fall „gekapert“ werden.
Eine von vielen Antworten darauf sind Drohnen, die wie Drachen an dünnen, kilometerlangen Kabeln hängen – und damit nicht störbar sind. Gleichzeitig findet die Drohnenrevolution nicht nur in der Luft statt: Ukrainische Seedrohnen setzen der russischen Schwarzmeerflotte stark zu. Vor wenigen Wochen griffen russische Bodendrohnen ukrainische Stellungen an, feuerten Granaten – ehe sie von ukrainischen FPV-Drohnen zerstört wurden.
Drohne gegen Drohne
Generation Playstation
Gerade testen Potter und sein Kamerad, wie sie zwei Drohnen nebeneinander über eine längere Distanz fliegen lassen können. „Hier gibt es viel zu beachten. Es kommt zum Beispiel oft vor, dass ich das Signal zu meiner Drohne verliere und stattdessen plötzlich jene meines Kameraden steuere“, sagt Potter.
Seine Drohne bliebe dann in der Luft stehen. Bringt er die andere ins Ziel, erscheint plötzlich wieder die Perspektive seiner Drohne auf der VR-Brille. „Man muss extrem konzentriert sein und schnell reagieren können.“ Wie hat er sich diese Fähigkeiten angeeignet? „Mein Vater hat mich immer geschimpft, wenn ich zu viel Playstation gespielt habe – jetzt trägt meine Zockerei dazu bei, dass wir uns verteidigen können.“
Seine Informationen über neue Entwicklungen holt sich Potter zumeist aus Youtube-Videos oder dem Austausch mit Kameraden. Daraus gewinne er neue Erkenntnisse, die er „im Feld“ ausprobiert.
Potter zeigt ein Video, in dem eine russische Stellung in Flammen aufgeht. „Dafür habe ich eine Flasche mit 1,5 Liter Benzin und einen Zünder an die Drohne montiert.“ Ein brennender Soldat läuft aus dem Graben, stolpert. Potter lacht. Warum er lache? „Meinst du, sie machen nicht exakt dasselbe mit uns? Das ist kein Spiel. Hier geht es um Leben oder Tod“, entgegnet er.
Das Drohnen-Wettrüsten beschleunigt die dünne Linie zwischen Leben und Tod am Schlachtfeld massiv. Keine Stellung ist mehr sicher. Während Überwachungsdrohnen jeden Abschnitt der Front genau im Blick haben, können FPV-Drohnen unter die Holzverschläge fliegen und dort detonieren. Gleichzeitig werden Drohnen mit Maschinengewehren entwickelt. Russische Panzer sind hingegen mit zusätzlichen Stahldächern ausgestattet, um sich vor Drohnen zu schützen. Ein Konzept, das angesichts der aktuellen russischen Vorstöße an der Front aufgeht.
Künstliche Intelligenz
Dazu kommt, dass beide Seiten ihre Drohnen mit Künstlicher Intelligenz ausstatten: In den letzten Sekunden vor dem Einschlag im Ziel reißt oft die Verbindung zur Drohne ab – sie könnte ihr Ziel auf den letzten Metern verfehlen. Das sollen auf beiden Seiten entwickelte KI-Programme mittels automatischer Zielerfassung verhindern. Auch in puncto Aufklärung und Feinderkennung geht der „Trend“ in Richtung Künstliche Intelligenz.
Geht diese Entwicklung weiter, könnte es dazu kommen, dass Menschen wie Potter nach und nach als Drohnenoperatoren wegfallen und die Drohnen automatisch starten und ihr Ziel nach den vorgegebenen Parametern auswählen. Diese Ziele wiederum könnten bald vermehrt Bodendrohnen sein, die nach denselben Parametern vorgehen.
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