Sie soll bis zu 35 Kilometer tief in den Rücken des Feindes fliegen, bis zu vier Kilogramm schwere Granaten abwerfen können und so zum Albtraum russischer Artilleriestellungen, Kommandoposten, Nachschublinien werden: Vergangene Woche präsentierte die Ukraine ihre neue „Backfire“-Drohne – es soll nahezu unmöglich sein, sie zu stören. Dafür soll eine leistungsstarke GPS-Antenne sorgen. „Aufgrund der völligen Autonomie der Drohne können die Russen ihre Koordinaten und das Bodenkommando nicht berechnen“, ist Mykhailo Fedorov, stellvertretender Premierminister der Ukraine, überzeugt.
➤ Keine Zeit zu reagieren: Wie die Drohnen den Krieg verändern
Ewige Spirale
Die „Backfire“ soll bald in Massenproduktion gehen und den ukrainischen Streitkräften einen Vorteil verschaffen. Wie lange, das steht in den Sternen. Denn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden die russischen Streitkräfte einen Weg finden, auch diese neue Drohne zu stoppen. Der Schlüssel dazu: Elektronische Kampfführung. Schon längst ist sie ein dominierender Faktor im Krieg um die Ukraine. Funksignale werden eingesetzt, um die Kommunikationsverbindungen zu Drohnen und Truppen zu stören, Ziele zu lokalisieren und Lenkwaffen zu überlisten. Noch nie wurde ein konventioneller Krieg mit so vielen Drohnen geführt - das Gefechtsfeld verändert sich in einer solchen Intensität, dass nahezu alle Streitkräfte weltweit ihre Kampfführung überdenken müssen. Doch abgeschlossen ist noch nichts: Auf jede neue Entwicklung auf dem einen Sektor folgt eine neue Antwort auf dem anderen – es ist ein ständiger Wettstreit zwischen den Ingenieuren und Taktikern auf beiden Seiten.
➤ Künstliche Intelligenz im Krieg: Eine Revolution gleich der Atombombe
Eines der besten Beispiele für das ewige Katz- und Maus-Spiel im Bereich der Elektronischen Kampfführung ist wohl das Ende der HIMARS-Dominanz: Über Monate als „Gamechanger“ gefeiert und tatsächlich maßgeblich am Erfolg der Gegenoffensiven im Herbst 2022 beteiligt, hat das System mittlerweile an Bedeutung verloren. Der Grund: Durch den Einsatz elektronischer Störsender ist es den russischen Streitkräften gelungen, das GPS-gesteuerte Zielsystem der HIMARS-Raketen zu verwirren, sodass viele von ihnen von den zuvor geplanten Zielen abweichen.
In diesem Artikel lesen Sie unter anderem:
- Warum die russische Elektronische Kampfführung in den ersten Kriegswochen fehlschlug
- Wie russische Stellungen mittlerweile geschützt sind
- Was die Ukraine dem entgegensetzen will
Frühe Entwicklung
Seit die Menschheit Funkwellen zur Kommunikation nutzt, wird im Krieg versucht, diese Kommunikation zu stören oder gar zu verhindern. Im besten Fall aber, abzuhören. Doch mit fortschreitender Entwicklung kamen weitere Aspekte dazu: Den Feind aufzuspüren, in die Irre leiten oder gleich zu bombardieren. Im Zweiten Weltkrieg etwa imitierten die britischen Streitkräfte Funksignale der Wehrmacht, damit die Zielsysteme der Bomber getäuscht würden. Einen massiven Vorsprung in diesem Bereich erarbeitete sich die Sowjetunion im Kalten Krieg, um eine Antwort auf die überlegenen Raketen und Flugzeuge der USA zu haben. Von dieser Entwicklung profitieren die russischen Streitkräfte noch heute.
Wichtiger Bestandteil
Denn beinah alle Kommunikationstechnologien sind auf elektromagnetische Signale angewiesen: Soldaten mit Funkgeräten, Drohnen, die von Piloten gesteuert werden, oder Raketen, die mit Satelliten verbunden sind. Spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 war die Elektronische Kampfführung ein wichtiger Bestandteil der russischen Operationen im hybriden und konventionellen Krieg in der Donbas-Region. Mit sogenannten „Leer-3“-Fahrzeugen und Orlan-10-Drohnen störten die von Moskau unterstützten Separatisten und Söldner die ukrainische Kommunikation und sandten gleichzeitig Propaganda über die örtlichen Mobilfunknetze.
Wenn die russischen Streitkräfte zum Angriff bereit waren, erfassten die boden- und luftgestützten Systeme ukrainische Funkgeräte und griffen sie mit Artillerie und Raketen an. Knapp vor Beginn des Angriffskrieges galt eine der größten Sorgen den russischen Fähigkeiten im Bereich der Elektronischen Kampfführung – allerdings war diese nur in den ersten Tagen der Invasion effektiv.
Aus Fehlern gelernt
Mit der Überstreckung der Angriffstruppen verloren die Russen ihren Vorteil in diesem Bereich. Ehe sie ihn nach und nach wiedererlangten. Einerseits, weil das Schlachtfeld immer statischer wurde, andererseits, weil sie aus ihren Fehlern lernten. Mittlerweile haben auch kleinere Einheiten eigene mobile elektronische Waffen wie Drohnenabwehrkanonen oder Störsender, die Gräben vor feindlichen Drohnen schützen sollen.
Als breiterer Schutz dienen große Systeme wie das „Zhitel R330-Zh“, die ganze Divisionen schützen sollen. Immer wieder gelingt es den ukrainischen Streitkräften, solche Systeme zu lokalisieren und zu zerstören, denn auch Kiew schläft nicht. „Der weit verbreitete Einsatz von Informationstechnologie in militärischen Angelegenheiten“ sei der Schlüssel, um die Pattsituation im Krieg gegen Russland zu überwinden, schrieb etwa der ukrainische Generalstabschef Valery Zaluzhny unlängst in einem Essay. „Trotz der Tatsache, dass der Feind seit Beginn der groß angelegten bewaffneten Aggression einen großen Teil dieser Ausrüstung verloren hat, verfügt er heute eine deutliche Überlegenheit im Bereich der Elektronischen Kampfführung. Entlang der Achsen von Kupjansk und Bachmut, hat der Feind ein mehrschichtiges System aufgebaut, dessen Elemente ständig ihren Standort wechseln“, setzte er nach.
„Start-up-Kultur“
Um dem entgegenzuwirken, setzt die Ukraine stark auf Forschung, auf private Unternehmen, die sie dabei unterstützen, geeignete Maßnahmen gegen die russische Übermacht zu finden. Im Sommer veranstaltete die ukrainische Regierung laut New York Times einen Wettbewerb für Firmen, die an Möglichkeiten arbeiten sollten, iranische Shahed-Drohnen zu stören.
Das deutsche Unternehmen Quantum-Systems, das die Ukraine mit Überwachungsdrohnen belieferte, entwickelte, als reihenweise dieser Drohnen aufgrund russischer Elektronischer Kampfführung abstürzten, eine Software, die von Künstlicher Intelligenz gestützt wird. Sie soll die Steuerung übernehmen, sobald die Verbindung der Drohne zum Piloten getrennt ist.
An der Front selbst ist technische Kreativität Alltag bei den Soldaten: Sie suchen neue Funkfrequenzen, tüfteln an Antennen – bis die russischen Einheiten eine entsprechende Antwort finden und alles wieder von vorne beginnt. Die rasante Entwicklung im Bereich der Elektronischen Kampfführung wird freilich auch international mit Interesse verfolgt – und wird die gesamte Kriegsführung revolutionieren.
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