Drohnenterror und Hochzeitsglocken: In Charkiw liegen Liebe und Tod nahe beieinander
"Nach der ersten Explosion bin ich in die Vorratskammer gelaufen, habe mich auf den Boden gelegt und gebetet“, sagt Olena zum KURIER. Acht weitere Explosionen sollten folgen. Auch vier Stunden nach dem russischen Luftangriff steht die junge Frau unter Schock, kann selbst nicht begreifen, dass sie überlebt hat. Die Tankstelle, in der Olena arbeitet, ist zerstört. So wie das Einkaufszentrum gegenüber. Dazwischen ausgebrannte Wracks.
Nach wie vor liegt süßlicher Brandgeruch in der Luft, Rettungskräfte bergen eine Leiche, packen sie in einen Sack und transportieren sie ab. Olena hingegen wird von ihrem Freund, einem ukrainischen Soldaten abgeholt. Arm in Arm gehen sie an den Trümmern vorbei in ihr zweites Leben.
Seit Wochen bombardiert Russland die Stadt Charkiw jede Nacht. In der Nacht auf Donnerstag mit einer sogenannten „double-tap“-Attacke: Drohnen schlugen in Wohngebäuden ein.
Knapper Strom
Eine Stunde später – die Rettungskräfte waren bereits vor Ort – folgte der nächste Drohnenschlag und tötete drei Einsatzkräfte. Am 22. März zerstörten russische Raketen das wichtigste Wärmekraftwerk der Stadt. Seither ist der Strom knapp, fällt meist für Stunden aus. Und das Kraftwerk ist dermaßen zerstört, dass es zumindest eineinhalb Jahre dauern wird, ehe es wieder einsatzbereit ist.
Olena hatte Glück
Einsatzkräfte bergen eine Leiche
Zerstörtes Kraftwerk am Stadtrand Charkiws
Versuch der Normalität
Dennoch versuchen die Menschen in Charkiw, sich von den russischen Angriffen nicht unterkriegen zu lassen. An den Gehsteigen bessern Handwerker die Schrapnellschäden an Gebäudefassaden aus, im Park spielen Kinder, daneben meditieren drei ältere Damen. „Man wird verrückt, wenn man in ständiger Angst lebt“, sagt Alexander zum KURIER.
Der junge Mann sitzt in einem Lokal an der Hauptstraße, die Dämmerung ist angebrochen. An jedem Tisch sitzen Menschen – Soldaten, Studenten, Liebespaare. Die Kellnerinnen entzünden Kerzen, eine Taschenlampe stecken sie in ein von der Wellblechdecke hängendes Rohr, sodass die Decke ihren Schein reflektiert und es beinahe wie geplant aussieht.
Neuer Bodenangriff?
„Ich weiß, dass auch diese Nacht wieder schrecklich wird. Dass Menschen sterben werden. Aber würden wir uns nur verkriechen, hätten die Russen schon gewonnen“, sagt er.
Die neuen Luftangriffe wecken den Verdacht, dass die russischen Streitkräfte im Frühling oder im Sommer erneut versuchen könnten, die Stadt – sie ist etwa 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt – erneut einzunehmen.
Wie Alexander dieses Risiko einschätzt? „Es würde für sie äußerst blutig werden, eine 1,3-Millionen-Stadt einnehmen zu wollen.“
Dennoch ist für ihn klar: „Wir brauchen eine bessere Luftabwehr – und das so schnell wie möglich.“
Zweifel
Eine Forderung, die in Charkiw jeder teilt. So auch Oleg (Name geändert), ein Polizist, der in wenigen Wochen an der Front kämpfen wird. „Es wird die Hölle – so wie beim letzten Mal, als meine Einheit und ich eingesetzt wurden. Aber wenn wir kämpfen müssen, kämpfen wir.“
Daran, dass die ukrainischen Streitkräfte die gesamte Ukraine zurückerobern können, glaubt er nicht mehr: „Das würde Hunderttausende weitere Tote bedeuten, wir bräuchten Waffensysteme, die wir nicht haben. Aber die russischen Angriffe müssen wir aufhalten. Unsere Verteidigung darf nicht umsonst gewesen sein. Es sind schon so viele gestorben“, sagt er und hofft, dass die Ukraine nach einem verhandelten Waffenstillstand NATO-Mitglied werden kann.
Unzählige Gräber
Wovon Oleg spricht, wird am Friedhof von Charkiw klar. Unzählige ukrainische Flaggen flattern im kalten Wind, Blumenkränze, Stofftiere, Limonadenflaschen liegen auf den frisch aufgeschütteten Grabhügeln. So mancher der gefallenen Soldaten wurde nach der Jahrtausendwende geboren, wie die Inschriften auf den Holztafeln zeigen.
Weinend steht eine Familie vor dem neuesten Grab: „Wir haben unseren Sohn gestern begraben. Er hat Bachmut überlebt und starb letzte Woche bei einem Raketenangriff auf die Stadt. Ich verfluche Wladimir Putin“, sagt sein gramgebeugter Vater mit brüchiger Stimme. Er und seine Söhne erheben ein Glas Wodka auf ihn.
Hochzeitstag
Eine Stunde später am Charkiwer Hauptplatz: Ein frisch vermähltes Paar tanzt auf der Straße.
Dort, wo wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls ein Marschflugkörper einschlug und Dutzende Menschen tötete. Die Braut dreht sich. Passanten halten an, jubeln, machen Fotos. „Wir konnten nicht mehr länger warten“, strahlt der glückliche Bräutigam und wirbelt seine Liebste durch die Luft. Vorbeikommende Autofahrer hupen frenetisch und für einen kurzen Moment ist Charkiw eine friedliche Großstadt wie so viele andere auf der Welt.
Doch in der Nacht werden wieder die Sirenen der Luftabwehr den Ton angeben.
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