Warum in Kiew keiner über Mobilisierung reden will

Warum in Kiew keiner über Mobilisierung reden will
Die Ukraine hat das Einberufungsalter von 27 auf 25 gesenkt, ohne viel Wind darum zu machen. Das Thema ist für die Politik toxisch, weil niemand mehr an die Front will - das wiederum irritiert den Westen.

Groß angekündigt hat er die Änderung nicht, im Gegenteil. Dass Präsident Selenskij dem Gesetz zur Herabsetzung des Rekruten-Mindestalter von 27 auf 25 Jahre zugestimmt hat, das bereits seit einem Jahr auf seinem Tisch lag, wurde nur auf der Parlamentshomepage veröffentlicht. Mit einem Einzeiler.

Das ist nicht überraschend. Kaum ein Thema spaltet die ukrainische Bevölkerung so sehr wie die Personalnot der Streitkräfte: Waren die Rekrutierungsbüros kurz nach Beginn der Invasion noch überfüllt, sucht das Militär jetzt händeringend nach Ersatz für jene, die an der Front ihr Leben gelassen haben – oder schlicht nicht mehr können.

Dass es kaum mehr Nachwuchs gibt, hat genau mit diesen Umständen zu tun. Viele der 200.000 bis 300.000 aktiven Kombattanten an der Front sind seit Monaten im Dauereinsatz, Rotationen kaum möglich, weil es keine Soldaten zum Austausch gibt. Das Durchschnittsalter ist mittlerweile auf 43 Jahre gestiegen.

Druck aus dem Westen

Obwohl das Land seit zwei Jahren im Krieg ist, blieb das Einberufungsalter im internationalen Vergleich sehr hoch – Israel zieht mit 18 Jahren ein, die Türkei mit 20. Ein Grund dafür ist die Demografiekrise, in der die Ukraine seit Langem steckt. Durch die Mangeljahre der 1990er ist die Generation der 20- bis 30-Jährigen stark unterrepräsentiert; hinter dem hohen Einberufungsalter steckte der Gedanke, diese Generation zunächst eine Familie gründen zu lassen, um die ausgedünnte Bevölkerung nicht weiter schrumpfen zu lassen.

Dass Selenskij das Gesetz unterschrieben hat, über das schon zuvor im Parlament massiv gestritten worden war und das seit 2023 auf seinem Tisch lag, dürfte dem zunehmenden Druck aus dem Westen geschuldet sein. „Ihr seid in einem Kampf um euer Leben, also sollt ihr dienen – nicht erst mit 25 oder 27“, sagte der Trump-nahe US-Senator Lindsay Graham letztens bei einem Kiew-Besuch öffentlich. Die Botschaft: Will Kiew angesichts der drohenden Frühlingsoffensive der Russen weiter Geld und Waffen aus dem Westen bekommen, muss es selbst etwas leisten – sprich junge Männer rekrutieren.

Warum in Kiew keiner über Mobilisierung reden will

Anwerbe-Poster der ukrainischen Streitkräfte: 650.000 wehrfähige Männer haben das Land verlassen

Das sorgt für Angst unter den Ukrainern, auch im Ausland. Geschürt wird die ganz bewusst von Russland, das Kapital aus der Debatte schlagen will: In sozialen Netzen kursieren Videos, in denen junge Männer von Behördenvertretern aus Autos gezerrt werden; angeblich, weil sie sich der Einberufung entzogen hätten. Vieles davon ist Fake oder aus dem Zusammenhang gerissen, wenngleich in den Städten tatsächlich auf der Straße gefilzt wird: In Telegramgruppen gibt man sich Tipps, in welcher Metrostation man gerade angehalten wird.

Sorgen sollen die Fakes aber dafür, dass sich noch mehr Männer verstecken, schließlich ist Fahnenflucht tatsächlich ein Problem. 650.000 Männer im wehrfähigen Alter haben seit Kriegsbeginn das Land verlassen, obwohl ihnen das verboten ist; 6000 Strafverfahren laufen gegen Wehrdienstverweigerer.

In der Bevölkerung herrscht laut einer jüngsten Umfrage übrigens Verständnis für die Fahnenflüchtigen. Mehr als die Hälfte hält den Fronteinsatz mittlerweile für ein One-Way-Ticket – und sterben wolle schließlich niemand.

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