Entführte ukrainische Kinder: "Sie mussten jeden Morgen Schießübungen machen"
Für viele Ukrainer ist er einer der stillen Helden dieses Krieges: Dmytro Lubinets organisiert als Menschenrechtsobmann den Austausch von Kriegsgefangenen und holt entführte Kinder aus Russland zurück. Der KURIER traf ihn bei einem Wien-Besuch.
KURIER: Im Februar konnten sie elf Kinder zurückbringen, die nach Russland verschleppt worden waren. Banal gefragt: Wie funktioniert das im Krieg? Verhandeln Sie selbst mit den Russen?
Dmytro Lubinets: Ja, ich spreche tatsächlich mit den Russen. Seit Kriegsbeginn habe ich die russische Menschenrechtsobfrau Tatjana Moskalkowa drei Mal getroffen, zuletzt vor einem Jahr. Da sprachen wir auch über die ukrainischen Kinder, sie sicherte Unterstützung zu. Aber: Ich habe kein Problem mit der Kommunikation, sondern nur mit den Ergebnissen.
Wo sind die Knackpunkte? Haben Sie Hilfe internationaler Vermittler?
Katar ist als neutraler Vermittler involviert – sie transportieren die Kinder über Katar in die Ukraine zurück. Auch die UNICEF hilft, ebenso wie einige Staaten, die nicht genannt werden wollen. Meine Aufgabe ist es, Kinder, Zivilisten und Kriegsgefangene physisch zurückzubringen. Bei Kriegsgefangenen ist es schwierig, weil Russland sich nicht an die Genfer Konvention hält, Schwerverletzte etwa zurückhält. Bei Kindern werden Dokumente gefälscht, sie verschwinden geradezu.
Wie viele Kinder konnten Sie seit Kriegsbeginn zurückholen?
Bisher konnten wir 529 Kinder zurückholen – das klingt viel, ist es aber nicht: Die Russen haben 20.000 verschleppt. Das ist die Zahl, die wir verifiziert haben. In Summe gelten aufgrund der Aggression der Russischen Föderation 28.000 Menschen als unter besonderen Umständen vermisst und ihrer persönlichen Freiheit beraubt. Diese Zahl beinhaltet neben Kindern auch Zivilisten und Kriegsgefangene. 208 Personen - Ukrainer und Krimtataren - werden zudem auf der besetzten Krim festgehalten. Bisher hat die Ukraine 147 Zivilisten in ihre Heimat zurückgebracht.
Was erzählen die Kinder, wenn sie zurückkommen?
Es ist wie Gehirnwäsche. Sie sagen, sie mussten jeden Morgen Schießübungen zur russischen Hymne machen, ihnen wurden Videos gezeigt, die sie auf Russland stolz machen sollen. Oft wurden sie unter dem Vorwand der Evakuierung mitgenommen, doch die Verschleppungen haben System. Russland nutzt Kinder dafür, um eine neue Generation für die Armee heranzuzüchten, sie werden in „Erholungsheime“ oder zu Familien gebracht und ganz bewusst indoktriniert. Alle ukrainischen Kinder werden verpflichtet, Armeeeinheiten für Kinder und Jugendlichen beizutreten. Sie müssen einen russischen Pass haben, dürfen nicht mehr ukrainisch, nur mehr russisch sprechen. Oft wird ihr Geburtsdatum und Geburtsort verändert, selbst ihr Name wird russifiziert: Aus Dmytro wird etwa Dimitrij. Wenn wir eine Anfrage nach Dmytro stellen, heißt es oft, ein Kind dieses Namens gebe es nicht. Wie soll ich dann nachweisen, dass das Kind aus der Ukraine stammt? Einen DNA-Test machen die Russen nicht.
Der internationale Strafgerichtshof hat die russische Kinderrechtsobfrau Marija Lwowa-Belowa, die selbst ein ukrainisches Kind adoptiert hat, wegen dieser Entführungen angeklagt. Hatte das einen Effekt?
Ja, das hat stark gewirkt. Nach dem Haftbefehl wurden plötzlich auffällig viele Kinder zurückgeschickt. Aber das Ganze geht über den Tatbestand der rechtswidrigen Deportation hinaus. Wir haben so viele Geschichten über dieses System gesammelt, die die Strategie des Genozids belegen. Unter diesen Tatbestand fällt, wenn Kinder systematisch und zwangsweise aus dem besetzen Gebiet abtransportiert werden. Dafür müsste es ein Spezialtribunal geben.
Kürzlich wurde bekannt, dass auch das russische Rote Kreuz in diese Waffentrainings mit Kindern involviert sein soll.
Davon wussten wir schon länger. Das Rote Kreuz in Russland und Belarus ist in einige Fälle von Deportationen und in Umerziehung involviert. Der Chef des belarussischen Roten Kreuzes hat mit dem russischen Z-Symbol am Ärmel die besetzten Gebiete in der Ukraine besucht. Die Mitgliedschaft von Belarus wurde danach nur ruhend gestellt, Strafen und Konsequenzen gab es keine. Dasselbe wird jetzt beim russischen Roten Kreuz passieren. Das verwundert nicht, denn ein russischer Vertreter sitzt im Führungsgremium des Internationalen Roten Kreuzes – gewählt wurde er im März 2022, nur einen Monat nach der Invasion. Was fehlt, ist ein global gültiges Völkerrechtssystem. Russland hat seit 2014 Kinder entführt, Zivilisten verschleppt, gefoltert, vergewaltigt. Die Ukraine hat das immer wieder laut gesagt, aber es gab nie eine Reaktion. Auch zu den Videos, wo Soldaten, die sich ergeben, von Russen erschossen werden, sind alle still. Russland behandelt die Genfer Konvention wie Toilettenpapier.
Was müsste die internationale Gemeinschaft Ihrer Ansicht nach tun?
Russische Vertreter müssten aus allen internationalen Gremien rausgeworfen werden, wie beim Europarat. Bei der OSZE ist Moskau noch immer dabei, obwohl Russland drei OSZE-Mitarbeiter im Donbass inhaftiert hat und zu jahrelanger Haft verurteilt hat _ das ist absurd. Auf der anderen Seite gibt es auch Fortschritte. Im Februar haben wir die internationale Plattform für die Freilassung der von der Russischen Föderation rechtswidrig inhaftierten Zivilpersonen gegründet, 50 Staaten sind dabei. Wir verhandeln darüber, dass einige Länder als Schutzmächte auftreten, deren Diplomaten ukrainischen Zivilisten in Russland Schutz geben. Derzeit macht das noch niemand, aber wir sprechen mit einigen Kandidaten darüber.
Wie wird die Ukraine mit Menschen in den besetzten Gebieten umgehen, die bei der Wahl am Sonntag Putin wählen – oder die Wahlen mitorganisieren? Sind das dann Kollaborateure?
Nach der Befreiung der besetzten Gebiete werden unsere Geheimdienste alle Aktivitäten der Menschen dort überprüfen. Aber: Wir können niemanden dafür bestrafen, dass er dort lebt, dass er einen russischen Pass angenommen hat. Die Verteilung von Pässen ist Teil der systematischen Russifizierung. Auch die Teilnahme an der Wahl – die man ja nicht mal Wahl nennen kann, sondern eher Fiktion – ist nicht strafbar. Aber wenn jemand aktiv bei der Organisation hilft, in Wahlkomitees sitzt oder Propaganda macht, dann ist das laut Gesetz Kollaboration. Und die ist mit mehreren Jahren Haft bedroht.
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