Am 24. Februar, kurz vor 4 Uhr nachts, gab Wladimir Putin seinen Truppen den Befehl zum Einmarsch in der Ukraine. Massenflucht, Tausende Tote, Kriegsverbrechen folgten. Zwei Jahre später stellt sich die Frage, wie dieser Krieg jemals enden kann - und wie er die Weltordnung verändert hat.
Antworten darauf geben Wolfgang Mueller, Osteuropa-Historiker an der Uni Wien, Analyst und Politikberater Franz-Stefan Gady und Ulf Michael Steindl, Sicherheitsexperte beim Austria Institut für für Europa- und Sicherheitspolitik.
KURIER: Nur mehr zehn Prozent der Europäer glauben an einen Sieg der Ukraine, in Österreich sieben. 50 Prozent wollen Verhandlungen samt Zugeständnissen. Glauben Sie noch an einen Sieg?
Wolfgang Mueller: Die UNO hat 2022 mit überwältigender Mehrheit Russland zum Ende der Aggression und zum Abzug aus der Ukraine aufgefordert. Es ist die Verantwortung der Staatengemeinschaft, den rechtmäßigen Zustand wiederherzustellen. Ich glaube fest, dass es eine tragfähige Lösung für die Ukraine geben kann und muss. Aber Verhandlungen für eine solche Lösung wird es wohl nur geben, wenn der Westen seine Unterstützung intensiviert. Und wenn es signifikante Sicherheitsgarantien des Westens für die Ukraine gibt. Dass bei einem Ende westlicher Unterstützung eine gute Lösung gefunden wird, ist illusorisch.
Wie ist die zunehmende Resignation zu erklären – gerade in Österreich?
Ulf Michael Steindl: Ja, die ukrainische Armee befindet sich in einer prekären Lage. Aber es stimmt nicht, dass der Krieg bereits verloren ist – auch ohne die USA wird Europa mehr und mehr fähig sein, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Möglicherweise gibt es sogar ein Szenario, in dem sich beide als Gewinner fühlen. Wichtig ist, dass Russland keinen Präzedenzfall setzen kann – dass Angriffskriege wieder Usus werden wie vor 100 Jahren.
Herr Gady, Sie waren selbst an der Front. Ist dort auch Kriegsmüdigkeit spürbar?
Franz-Stefan Gady: Die konstanten Bombardements, Explosionen, das Gefechtsfeld voller Drohnen: Da fühlt man sich wie kurz vor einem Schlag – gebückt, der Körper gespannt. Dieser permanente Druck zermürbt die Soldaten, lädt zu Fehlentscheidungen ein. Man merkt, dass es Kriegsmüdigkeit gibt. Die Soldaten fühlen sich mehr und mehr alleine gelassen, von der eigenen Bevölkerung, der Politik, den Verbündeten. Dennoch sind die Ukrainer überzeugt weiterkämpfen zu müssen. Ein zu früher Waffenstillstand würde von Russland als Verschnaufpause genutzt, um die Streitkräfte zu modernisieren und früher oder später erneut anzugreifen – sofern es keine Beistandspflichten der USA oder anderer Staaten gibt.
Zuletzt hat die Ukraine die Stadt Awdiiwka verloren. Ein symbolischer Knackpunkt?
Gady: Nein. Bachmut war ein symbolischer Sieg für Russland. Awdiiwka ist anders. Einen großen Durchbruch der Russen erwarte ich denoch nicht, aber Moskau hat jetzt Möglichkeiten, neue Angriffsachsen zu eröffnen. Aber ich warne vor der Schwarzmalerei, dass es eine totale militärische Niederlage der Ukraine geben wird:. Russland hat nicht unendliches militärisches Potenzial, den Krieg kann es auf jetzigem Niveau etwa noch zwei Jahre führen. Dieses Jahr wird die Ukraine durch ein Tal der Tränen gehen, aber die Ukrainer können noch einiges erreichen. Dieses Jahr hat sie kein Potenzial für eine Offensive, weil Artilleriemunition und andere Mittel fehlen. Aber ab dem letzten Quartal 2024 können die Europäer die Ukrainer besser in einer Defensivstrategie unterstützen, um die Front zu halten. Für eine Offensive 2025 wäre amerikanische Hilfe nötig. Dieser Krieg wird also nicht mit Ende des Jahres vorbei sein.
Putin führt ja nicht nur gegen die Ukraine Krieg, sondern gegen den ganzen Westen – das sagt er immer wieder. Haben Berlin, Paris, Washington das verstanden?
Mueller: Putin sieht Russland in einem Krieg gegen den kollektiven Westen. Im russischen Fernsehen ist von der Besetzung Prags und Berlins die Rede. Hybride Angriffe nehmen zu. Das wissen im Westen viele Politiker, aber in der Öffentlichkeit ist es weniger präsent – und deshalb vielleicht für die Politik nicht primär handlungsleitend. Die westliche Reaktion findet darum oft mit „angezogener Handbremse“ statt, und das vermittelt Russland, dass die Hilfe für die Ukraine auf tönernen Füßen stehe – und bald enden wird. Wenn der Westen nicht agiert, ist er dabei, diesen „Krieg“ zu verlieren. Der Historiker Niall Ferguson sagte letztens, wenn die Ukraine den Krieg verliert, ist das die erste Niederlage des Westens im nächsten Kalten Krieg. Das ist auch die russische Perspektive.
War der Westen wegen Putins roter Linien zu ängstlich? Oder waren wir zu forsch, wie manche sagen?
Steindl: Zu forsch sicher nicht. Abschreckung beruht immer darauf, dass der Gegner einen ernst nimmt. Russlands Rhetorik hat die Europäer jedenfalls abgeschreckt, auch wenn das Überschreiten der Linien immer nur verbale Reaktionen des Kreml zur Folge hatte. Vor allem im letzten Jahr hätte die Ukraine einen entscheidenden Vorteil gehabt, wenn der Westen schneller geliefert hätte. Es braucht die Erkenntnis: Je mehr zurückgehalten wird, umso länger wird dieser Krieg dauern.
Gady: Wir haben das geliefert, was wir fähig waren zu liefern – und was die Ukraine fähig war zu absorbieren. Der Grund, warum die Gegenoffensive fehlgeschlagen, war nicht nur fehlendes Gerät, sondern weil das Gerät nicht immer richtig eingesetzt wurde. Nach drei Monaten Ausbildung kann man die Geräte nicht am effektivsten einsetzen. Ja, wir hätten mehr machen können – aber nicht jedes militärische Niederlage lässt sich auf die mangelnden Unterstützung des Westens zurückführen.
Gilt das Prinzip „mehr Forschheit“ auch für die Sanktionen? Ein Teil der russischen Waffen hat europäische Komponenten, die wegen der löchrigen Sanktionen nach Russland kommen.
Steindl: Es wird in einer so vernetzten Welt wie unserer nie gelingen, alle Löcher zu schließen. Selbst aus Kühlschränken können Komponenten für Waffen benutzt werden. Und es gibt Märkte, die gerne mit Russland handeln und dabei Geld verdienen, die Türkei, Kasachstan, China. Zu lange hat man gezögert, Sekundärsanktionen zu verhängen.
Ein zu früher Waffenstillstand könnte Russland zu einem neuen Angriff verleiten, heißt es – in fünf bis zehn Jahren. Wäre Europa dafür gerüstet?
Gady: Diese Szenarien sind oft bewusst herausgespielte Nachrichtendiensteinschätzungen, da muss man vorsichtig sein. Wir wissen nicht, wann der Krieg in der Ukraine vorbei sein wird. Und es kann keine seriöse Einschätzung stattfinden, solange er nicht vorüber ist, solange wir nicht wissen, wie viele Verluste Russland erleiden wird. Die Lage in Europa – wo wir auf extrem niedrigen Niveau der Nachrüstung sind – muss separat debattiert werden.
Sogar in der Schweiz wird massiv über Aufrüstung debattiert, in Österreich ist das kein Thema. Woran liegt das?
Mueller: In Österreich galt vielen die Devise: Wir können uns ohnehin nicht verteidigen, die Neutralität ist ausreichender Schutz. Historisch ist letzteres nicht beweisbar, eine Reihe neutraler Staaten wurde überfallen – von Belgien im Ersten Weltkrieg bis zur Ukraine 2014. Eine sicherheitspolitische Diskussion darüber fehlt, ebenso eine über die wirtschaftspolitische Neutralität: Wir beziehen mehr als 80 Prozent des Erdgases von einer kriegführenden Macht, haben seit Kriegsbeginn mehr als acht Milliarden an Russland bezahlt. Die Unterstützung der Ukraine beläuft sich auf etwa ein Zehntel davon.
Steindl: Wir können uns als neutral sehen, aber von außen sind wir das nicht. Russland etwa sieht uns nicht so, darum mischt es sich auch in unsere Wahlen ein. Russland geht es darum, die europäische Sicherheitsarchitektur über den Haufen zu werfen – USA raus, die EU gespalten, Russland als vorherrschende Macht. Das sollte unsere Politik gegenüber der Ukraine formen.
Wird eine neue Präsidentschaft Trumps die Lage noch verschärfen?
Gady: Es gibt in Washington keinen sicherheitspolitischen Konsens mehr über die Rolle der USA in der Welt. Das wäre auch ohne Trump ein großes Problem, weil es Instabilität im ganzen globalen System kreiert. Europa muss realisieren, dass wir in vielen Fragen – vor allem militärischen – möglicherweise allein dastehen werden. Damit muss man sich auseinandersetzen, denn die Konflikte werden in den kommenden 20 Jahren noch zunehmen.
Ihr – kurzer – Ausblick auf Europa in zehn Jahren?
Steindl: Ich hoffe, dass Europa im neuen Mächtekampf zwischen China, den USA und neuen Mittelmächten nicht zerrissen wird, sondern sich vereint behauptet. Und ich hoffe, dass Verteidigung auch in Friedenszeiten ernst genommen wird.
Gady: Wir glauben immer, gewisse Dinge werden in Zukunft passieren, weil sie sich in der Vergangenheit ereignet haben. 2021 hat kaum einer geglaubt, dass bald deutsche Panzer auf russische schießen. Darum warne ich vor zu linearem Denken – vor allem in der Politik: Die meisten politischen Weisheiten basieren nur auf Bauchgefühl.
Mueller: Ich sehe zwei konträre Szenarien. Werden die richtigen politischen Entscheidungen getroffen, kann Europa einer der freiesten, wohlhabendsten, sichersten Orte der Welt bleiben. Treffen wir sie nicht, werden hybride Bedrohungen und Versuche, die Gesellschaft zu spalten, vermutlich zunehmen.
Die Diskussion wurde auf Einladung des Wilfried Martens Center, der Politischen Akademie und des AIES geführt, die Autorin hat moderiert.
Kommentare