An welchen Frontabschnitten die Ukraine massiv unter Druck steht

Beinahe 50.000 Soldaten sollen die russischen Streitkräfte bei der Eroberung von Awdijiwka verloren haben. Dazu Hunderte Panzer und weiteres Gerät. Allerdings ist Russland in der Lage, monatlich etwa 100 neue Kampfpanzer an die Front zu schicken. Die Leben der Soldaten zählen auf russischer Seite traditionellerweise wenig. Und so bedeutet der Verlust Awdijikwas nichts Gutes für die ukrainischen Streitkräfte.
Mit dem Wegfall der zur Festung ausgebauten Stadt müssen sich die Verbände auf die zweite von drei Verteidigungslinien zurückziehen. Sie wurde in den vergangenen Monaten trotz zugefrorenen Böden zwar ausgebaut – es muss sich aber erst zeigen, ob sie hält.
Der Raum Awdijikwa ist jedoch nicht der einzige Bereich, in dem die russischen Streitkräfte ihren Druck erhöhen, beziehungsweise langsam, aber sicher vorrücken. Insgesamt 500.000 russische Soldaten dürften derzeit in der Ukraine stationiert sein, bis zu 240.000 davon sollen in Verbänden organisiert sein, die derzeit ukrainische Stellungen entlang der Front angreifen.
Ein Überblick:
Kupjansk: Seit mindestens acht Monaten haben die russischen Streitkräfte den Druck auf die Stadt im Oblast Charkiw erhöht, versuchen, immer näher an den Oskol-Fluss vorzurücken. Die ukrainischen Streitkräfte setzen sich erbittert zur Wehr, immer wieder tauchen Videos von fehlgeschlagenen russischen Angriffen auf, die durch ukrainische Artillerieschläge vernichtet werden. Dennoch rücken sie immer weiter vor – und sollen kürzlich durch bis zu 500 Kampfpanzer verstärkt worden sein. Sollte es den Russen gelingen, Kupjansk zu erobern, hätten sie damit einen Brückenkopf über den Oskol errichtet. Damit würde die Gefahr eines tiefen Angriffs in Richtung Charkiw steigen.
Lyman: Wie Kupjansk wurde die Stadt während der Gegenoffensive im Herbst 2022 durch ukrainische Einheiten befreit. Auch hier versuchen die Russen, wieder vorzurücken. Insgesamt sollen die russischen Streitkräfte zwischen Kupjansk und Lyman 110.000 Soldaten im Einsatz haben.
Bachmut: Etwa fünf Kilometer westlich der Stadt, die vor allem die Wagner-Gruppe im Frühling vergangenen Jahres für den Kreml eroberte, liegt Tschassiw Jar– ein Ort auf einer Anhöhe, der zur Festung ausgebaut wurde. 62.000 russische Soldaten versuchen, diese Anhöhen zu stürmen. Gelingt es ihnen, stünde die Stadt Kramatorsk – die letzte große Stadt im Oblast Donezk – im Radius der russischen Artillerie.
Marinka: Die Stadt ist völlig zerstört, die Bilder gingen bereits vor einem Jahr um die Welt. Mittlerweile rücken von dort aus russische Truppen vor. Unter anderem auf die Stadt Wuhledar, wo die russische Winteroffensive vom vergangenen Jahr zerschellte. Gelingt es den Russen allerdings, von Norden zu kommen, dürfte dies die Lage der ukrainischen Verteidiger massiv verschlechtern.
Rabotyne: Just dort, wo die Hoffnung der ukrainischen Streitkräfte bei der Gegenoffensive vergangenen Jahres am stärksten waren, rücken russische Verbände seit Kurzem wieder vor. Je nach Quelle einen halben- bis zwei Kilometer.
Die Probleme der ukrainischen Streitkräfte sind überall dieselben: Munitionsmangel, vor allem im Bereich der Artillerie. Die sogenannten „Fleischangriffe“ russischer Sturmtruppen. Der Mangel an Flugabwehr, was den russischen Streitkräften ermöglicht, schwere Gleitbomben auf die ukrainischen Stellungen zu feuern. Der Mangel an frischen Soldaten.
Während im US-Kongress seit Monaten über ein neues Hilfspakte debattiert wird, beginnen in Europa die Diskussionen darüber, ob und wie man 800.000 durch Tschechien „ermittelte“ Artilleriegranaten aus Drittländern beschaffen könne. Es ist davon auszugehen, dass sich dieser Prozess noch länger hinziehen wird.
Ob den russischen Streitkräften ein wirklicher Durchbruch der Front gelingt oder nicht, ist derzeit nicht abschätzbar. Fakt ist, dass an der Front seit bald zwei Jahren ein Abnützungskrieg herrscht, in dem die Zeit für Moskau spielt. Mit dem Ausbleiben neuer Munitionslieferungen jeden Tag mehr.
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