Frontstadt in der Ukraine: Auch nach der Befreiung leben viele in Kellern

Frontstadt in der Ukraine: Auch nach der Befreiung leben viele in Kellern
Ohne Gas, Strom und mit der nahen Front leben die verbliebenen Bewohner von Lyman unter entsetzlichen Umständen. Ein KURIER-Lokalaugenschein

Der Schein eines grünen Neon-Schlauchs, den Andriy aus den Trümmern einer Raststätte geborgen hat, erhellt das kleine Kellerabteil. Hier schlafen er und seine Frau Ulyana seit sechs Monaten, lagern Holz und Vorräte. Über einem kleinen Holzofen köchelt Gemüsesuppe. Selbst Wochen nachdem die ukrainischen Streitkräfte die ehemals 20.000-Einwohner-Stadt Lyman eingenommen hatten, wohnen viele der Bewohner weiterhin in den Kellern ihrer oft völlig zerstörten Häuser. Aus der Ferne dröhnt das Donnern der Artillerie. „Auch wenn wir seit einigen Wochen keinen Beschuss mehr erlebt haben, es kann jederzeit wieder kommen“, sagt Andriy.

Frontstadt in der Ukraine: Auch nach der Befreiung leben viele in Kellern

Neunjährige getötet

Ob sich seit der Befreiung etwas geändert habe? „Ich bin Krankenschwester, habe vor dem Krieg im Spital gearbeitet, während die Russen da waren ebenso – und mache das immer noch“, sagt Ulyana. Die russischen Soldaten hätten sie beide in Ruhe gelassen, ihnen ebenso Lebensmittel gebracht wie die ukrainischen. Von Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung wissen weder Andriy noch Ulyana etwas zu berichten. Andriy schöpft etwas Suppe in eine Plastikschüssel, geht die Stiegen hinauf ins Freie und setzt sich auf eine Bank im Schatten der zerbombten Wohnsiedlung.

Grundmauern gesprengt

Wenige Meter entfernt klafft ein Krater – ein Artilleriegeschoss hat einen Teil der Grundmauern des Plattenbaus weggesprengt. „Wir haben keine Ahnung, ob es Russen oder Ukrainer waren, auf jeden Fall hat diese Explosion ein neun Jahre altes Mädchen aus der Nachbarschaft getötet“, sagt Andriy mit Bitterkeit in der Stimme. Am Ende des Blocks schlagen zwei Männer Feuerholz, eine Frau pumpt Wasser aus dem Brunnen.

Drei Glühbirnen

„Wir haben weder Gas noch Strom – bis auf ein Aggregat, das drei Glühbirnen für die 23 Menschen im Keller betreibt“, sagt Oleksander, der mit verbundener Hand an der Hauswand lehnt. Er hat sie sich beim Holzhacken verletzt. „Das einzige Wasser, das wir haben, kommt aus diesem Brunnen.“ Wie er den ukrainischen Vormarsch sieht? „Sehe ich so aus, als würde mich Politik interessieren? Ich muss schauen, dass meine Familie durch den Winter kommt.“

Dach eingestürzt

Güter sind in den vergangenen Monaten viele nach Lyman gekommen, zum größten Teil allerdings militärische. Der Eisenbahnknotenpunkt war für die russischen Truppen von hoher strategischer Bedeutung – jetzt ist auf dem gewaltigen Bahnhof von Bewegung keine Spur. Rostende Güterzüge stehen auf den Gleisen, die die Stadt teilen, zerrissene Stromkabel hängen herab. Das Dach der Bahnhofshalle ist eingestürzt, die Mauern sind rußgeschwärzt. Dann und wann fahren Einheimische mit Rädern über die Bahnübergänge, um im karg bestückten Lebensmittelladen einzukaufen.

Frontstadt in der Ukraine: Auch nach der Befreiung leben viele in Kellern

Mine statt Pilz gefunden

Frontstadt in der Ukraine: Auch nach der Befreiung leben viele in Kellern
Frontstadt in der Ukraine: Auch nach der Befreiung leben viele in Kellern

Ein Mann erzählt, er habe im Wald nach Pilzen suchen wollen. „Stattdessen habe ich eine verfluchte Mine gefunden und entschärft.“

Auf der anderen Seite des Bahnhofs schlendern ukrainische Soldaten durch die weitgehend zerstörten Straßen. Ihre Gesichter sind eingefallen, die Blicke verhärmt. Berichten zufolge erlitten auch die ukrainischen Streitkräfte bei der Schlacht um Lyman hohe Verluste. Derzeit kämpfen sie wenige Kilometer weiter östlich, haben einige Dörfer im Oblast Lugansk befreit.

Vitali, seine Frau und die vier Kinder wurden soeben evakuiert. Der Schrecken der Bombardements steht ihnen ins Gesicht geschrieben: „Die vergangenen Wochen haben wir uns verschanzt, gebetet, dass wir überleben“, sagt Vitali. „Ich habe meinen Bauernhof, mein Hab und Gut zurückgelassen – jetzt schauen wir, dass wir zu Verwandten in die Westukraine kommen.“ An die russische Besatzung hat er keine guten Erinnerungen: „Sie haben die Uniform meines Bruders in meinem Haus gefunden, mich verprügelt. Meist haben sie betrunken in die Luft geschossen.“

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