Wie Kinder unterrichtet werden, während russische Bomben fallen

Wie Kinder unterrichtet werden, während russische Bomben fallen
Während die russischen Bombardements auf die zweitgrößte Stadt der Ukraine zunehmen, besuchen täglich mehr als 2.000 Kinder den Schulunterricht – in eigens umgebauten U-Bahn-Stationen.

Langsam, fast vorsichtig, fährt die U-Bahn von der Station ab, das Rattern und Poltern ist hinter der Fensterscheibe mit den aufgemalten Löwenzähnen und Maiglöckchen kaum zu hören. „Die Züge verringern ihr Tempo extra einige hundert Meter vor und nach der Station, um so wenig Lärm wie möglich zu machen“, sagt Julia Bashkirowa, während aus dem Raum hinter ihr umso lauterer Lärm dringt.

Kein Poltern, kein Werkzeug, mit dem vielleicht eine kaputte Rolltreppe repariert wird – sondern das Lachen Dutzender Kinder. Denn wo sich früher Fußgänger am Weg zur U-Bahn getummelt haben, steht nun eine von fünf Charkiwer Untergrund-Schulen. Auf Julias Handy schrillt der Luftalarm – sie zieht es aus ihrer Tasche und schaltet den Alarm ab. Etwas, das zeitgleich wahrscheinlich Zehntausende an der Oberfläche ebenfalls tun werden.

Wie Kinder unterrichtet werden, während russische Bomben fallen

Tägliche Bombardements

Seit Wochen vergeht kaum ein Tag, an dem die Stadt nicht bombardiert wird – die russischen Angriffe haben massiv an Intensität gewonnen. Dennoch scheint sich ein großer Teil der Charkiwer Bevölkerung mit der Bedrohung abgefunden zu haben. Gleichzeitig sollen die Kinder zumindest im Unterricht sicher sein.

Etwa 2.000 ukrainische Schulen wurden laut dem ukrainischen Bildungsministerium seit Beginn der russischen Invasion zerstört oder beschädigt. Damit könne jede siebte Schule des Landes nicht mehr genutzt werden.

Charkiw, nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt, will auf Nummer sicher gehen.

Zufluchtsort

Im vergangenen Jahr begann die Stadt damit, die ersten U-Bahn-Stationen, die vor allem in den ersten Kriegsmonaten ein wichtiger Zufluchtsort für viele Familien waren, zu Schulen umzubauen und sicheren Unterricht zu ermöglichen.

Die Tür zum Klassenraum geht auf, etwa zwanzig Erstklässler wippen unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Nicht etwa aus Nervosität. Sie wissen, was gleich kommt: „Was wollt ihr einmal werden?“, fragt die Lehrerin. Sofort schießen alle Hände in die Luft: „Stewardess!“, ruft ein Mädchen, „Pony-Tierärztin!“, ein anderes.

Sofort reden die Kinder wild durcheinander, plappern fröhlich vor sich hin. Doch gleich wird der Unterricht fortgesetzt: Mathematik, gefolgt von Ukrainisch. Nach drei Unterrichtsstunden endet der Schultag, denn aufgrund des Platzmangels müssen die Schulen im Schichtbetrieb arbeiten.

Schichtbetrieb

Die insgesamt 490 Kinder an dieser U-Bahn-Schule passen nicht auf einmal hinein. Während ihre Mitschüler in der zweiten Schicht am Nachmittag in der Klasse sitzen, geht der Unterricht für die Kinder der ersten Schicht online weiter. „Erst die Pandemie, dann der Krieg – es ist einfach wichtig, dass sie zumindest eine gewisse Zeit am Tag eine normale Klasse sein können“, sagt Julia, die Bildungsdirektorin des Charkiwer Bezirks Shevchenkco. In einem eigenen Raum ist die Schulpsychologin, die vor allem darauf schaut, dass die Kinder gemeinsam eine möglichst gute Zeit haben. Sitzsäcke, Spielzeug, Wachsmalfarben – der Raum sieht mehr wie ein Spielzimmer aus. Genau das sei Sinn und Zweck. Zu behandelnde Traumata gebe es selten. „Kinder sind resilient und anpassungsfähig. Unser Ziel ist es, sie abzulenken. Das ist das Wichtigste“, sagt Julia.

Klassische Klasse

Insgesamt 2.203 Schüler besuchen die fünf Untergrund-Schulen – die Ältesten von ihnen sind fünfzehn Jahre alt. Wie in wahrscheinlich jeder fünften Klasse weltweit sitzt ein gepflegt aussehender junger Mann mit Brille in der ersten Reihe und schreibt wissbegierig mit.

Irgendwo in der Mitte versteckt eine junge Frau ihr Gesicht hinter rot-schwarz gefärbten Haaren, während in der letzten Reihe zwei Buben unablässig schwätzen. „Die drei Stunden sind viel zu wenig, dafür, dass die Anreise für mich eine Stunde dauert“, sagt einer der Schüler. Ob er sich also mehr Online-Unterricht wünsche? „Nein, das Gegenteil. Mehr Stunden hier, dann ergibt das auch einen Sinn.“

Was er einmal werden will? „Programmierer. In Friedenszeiten.“

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