Bürgermeister von Charkiw: "Menschen werden täglich nur zwei bis drei Stunden Strom haben"
Der KURIER traf den Bürgermeister der Stadt Charkiw, die derzeit massiv unter russischen Angriffen steht. Der Strom wird knapp - und Gerüchte über einen russischen Bodenangriff machen die Runde.
Um fünf in der Früh zerfetzt ein Knall die Luft. Der Boden zittert. Sirenengeheul – wie so oft in Charkiw. Nur dieses Mal dauert der Alarm an. Wieder und wieder der gleiche Knall. Insgesamt zehn russische Raketen explodieren Donnerstagfrüh in Charkiw, zerstören ein weiteres Kraftwerk. Auch in Kiewwird eines der wichtigsten Elektrizitätswerke zerstört - die Situation der ukrainischen Zivilbevölkerung droht sich massiv zu verschlechtern.
Drei Stunden später. Eine Kellnerin serviert Kaffee, reibt sich die Augen. „Wieder einmal eine unruhige Nacht", sagt sie mit belegter Stimme. Doch sie liebe ihre Stadt: „Ich war für sechs Monate in Berlin, doch da war es dermaßen dreckig. Das war einer der Gründe, warum ich wieder zurückgekommen bin." Trotz der ständigen Luftangriffe fährt die Müllabfuhr, putzen die Straßenarbeiter. Am Markt tummeln sich die Menschen bei 29 Grad Celsius. Dennoch ist klar: Angriff um Angriff zerstören die russischen Streitkräfte mehr an kritischer Infrastruktur. Und der Strom ist bereits jetzt knapp. Der KURIER traf den Charkiwer Bürgermeister Ihor Terechow zum Interview.
KURIER: Einmal mehr gab es einen massiven russischen Luftangriff in Charkiw. Was haben die russischen Streitkräfte zerstört? Und wie beurteilen Sie die Lage?
Ihor Terechow: Die Situation ist extrem ernst. Mit zehn Raketen haben die Russen in der Früh ein Kraftwerk in der Stadt und eines außerhalb zerstört – dazu ein weiteres Umspannwerk. Wie bereits am 22. März, als sie unsere Stromproduktion empfindlich trafen. Wir hatten für 24 Stunden keinen Strom, haben begonnen, was wir reparieren konnten, zu reparieren. Allerdings haben wir nicht die Möglichkeit, alles zu reparieren.
In den vergangenen Tagen wurde die Situation besser – Haushalte hatten bis zu sieben, acht Stunden am Tag Elektrizität. Seit heute ist das anders. Ab jetzt werden die Menschen zwei bis drei Stunden Strom pro Tag zur Verfügung haben.
Wie viele Patriot-Batterien oder ähnliches bräuchte Charkiw, um einigermaßen vor Luftangriffen geschützt zu sein? Und was ist jetzt notwendig, um eine stabile Energieversorgung wiederherzustellen?
Ich bin Zivilist – diese Aufgaben sind dem Militär überlassen, das sich damit wirklich auskennt. Mir geht es darum, die Sicherheit der Charkiwer zu gewährleisten – ob das mit Patriot oder Iris-T passiert, ist nicht von großer Bedeutung. Von größter Bedeutung ist aber eine funktionierende Luftverteidigung. Und das spielt natürlich in die Frage der Energieversorgung: Ohne Luftverteidigung können wir die kritische Infrastruktur wie etwa die Umspannwerke nicht schützen. Wir haben einen gigantischen Bedarf an Stromgeneratoren – aber derzeit keine Möglichkeit, die benötigte Anzahl zu bekommen.
Gibt es Zahlen darüber, wie viele Raketen, Drohnen, Marschflugkörper bereits auf Charkiw abgefeuert wurden?
Es ist unmöglich, alle zu zählen – vor allem zu Beginn der russischen Invasion, als die Soldaten am Standrand standen, feuerten sie mit dermaßen vielen unterschiedlichen Waffen in die Stadt. Fest steht, dass mehr als 8.000 Gebäude zerstört oder beschädigt worden, 150.000 Menschen ihre Häuser oder Wohnungen verloren haben und obdachlos sind.
Trotz des Beschusses geht das tägliche Leben in Charkiw weiter. Familien besuchen den Zoo, Menschen sitzen trotz Alarms draußen, trinken Kaffee. Was denken Sie darüber?
Zuallererst: Das Leben geht weiter. Trotz des Krieges, trotz der regelmäßigen Raketenangriffe. Die Menschen leben ihr Leben, weil sie kein anderes haben. Aber natürlich sollte man bei einem Luftalarm vorsichtig sein und auf sich und seine Familie schauen.
Es gibt Gerüchte, dass die russischen Streitkräfte im Frühsommer wieder versuchen werden, Charkiw zu erobern. Bereiten Sie sich auf diese Situation vor?
Wir kennen diese Gerüchte, die vor allem von russischen Medien verbreitet werden. Es ist nicht wichtig, ob es diese Pläne tatsächlich gibt. Das Wichtigste ist, dass wir Charkiwer weiterhin für unsere Stadt stehen, sie verteidigen – und für sie kämpfen. So wie es unser Militär tut, das uns verteidigt – und das trotz massiven Mangels an verschiedensten Verteidigungsgütern.
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