Migrationsexpertin: "Gibt keine Grundlage für Syrien als sicheres Herkunftsland"
Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) fordert regelmäßig, Rückführungen nach Syrien zu diskutieren. Gleichzeitig versucht Brüssel, durch Flüchtlingsdeals mit Ländern mit Mittelmeerzugang, zuletzt mit dem Libanon, Flüchtlinge von ihrem Weg in die EU abzuhalten.
Die türkische Völkerrechtlerin und Migrationsforscherin Neva Övünç Öztürk von der Universität Ankara sagt, aus rechtlicher Sicht gebe es keine Grundlage für eine Einstufung Syriens als sicheres Herkunftsland. Sie kritisiert, dass sich die EU mit derartigen Deals aus der physischen Verantwortung stehle, und blickt kritisch auf den oft zitierten EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei.
KURIER: In Österreich wird überlegt, Syrien als sicheres Herkunftsland einzustufen, um syrische Geflüchtete zurückschicken zu können. Was halten Sie von dieser Debatte?
Neva Öztürk: Es ist nicht Sache der Politiker, zu entscheiden, ob Syrien als sicheres Herkunftsland oder Teile Syriens als interne Fluchtalternativen einzustufen sind. Das ist eine rechtliche Angelegenheit.
Die Debatte hat mit Dänemark begonnen, das als erstes Land bestimmte Gebiete in der Nähe von Damaskus für sicher erklärt hat. Dänemark stützte sich auf einen Bericht, den die dänischen Einwanderungsbehörden zusammen mit einer NGO erstellt haben. Dieser war sehr umstritten und wurde von Experten stark kritisiert. Die EU sieht Standards für die Bewertung von Herkunftsländern vor, es muss eine Gegenprüfung von Informationen, ein Abgleich von Wissen stattfinden.
Und das hat in Dänemark nicht stattgefunden?
Nein. Eine der am häufigsten zitierten und zuverlässigsten Quellen für Länderinformationen sind die Berichte der Asylagentur der Europäischen Union, und die sagen, dass die Situation in Syrien nicht völlig sicher und instabil ist. Selbst in den Gebieten, in denen nicht mehr gekämpft wird, besteht ein Risiko für Rückkehrer, die in anderen Ländern Asyl beantragt haben. Ihnen drohen Entführungen, Folter und willkürliche Verhaftungen. Diese Forderung ist also nicht mit rechtlichen Realitäten untermauert.
Nach Angaben der Vereinten Nationen waren Ende 2022 mehr als 6,8 Millionen Syrerinnen und Syrer Binnenvertriebene in ihrem eigenen Land. 70 Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, 90 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze. 6,5 Millionen Syrerinnen und Syrer haben Schutz im Ausland gesucht, davon 3,4 Millionen in der Türkei. Das macht die Türkei zum weltweiten Hauptaufnahmeland für Flüchtlinge. 99 Prozent der Flüchtlinge leben laut UN nicht in Flüchtlingslagern.
In Österreich lebten 2022 laut Österreichischem Integrationsfonds rund 68.400 Syrerinnen und Syrer. Knapp zwei Drittel der syrischen Bevölkerung in Österreich sind männlich. 2023 stammten rund 21.200 Asylanträge in Österreich von Flüchtlingen aus Syrien. Damit war Syrien das häufigste Herkunftsland von Asylbewerbern; gefolgt von Afghanistan mit circa 8.520 und der Türkei mit etwa 7.740 Anträgen. Insgesamt wurden in Österreich 2023 ungefähr 58.700 Asylanträge gestellt.
Die Türkei gilt als größtes Aufnahmeland von Flüchtlingen weltweit, die meisten kommen aus Syrien. Wie hat die Türkei die Situation gemanagt?
Als der Bürgerkrieg in Syrien losging, verfolgte die Türkei eine Politik der offenen Tür. Rechtlich gesehen war das richtig, denn das internationale Recht besagt, dass man Menschen nicht wohin zurückschicken kann, wo ihr Leben bedroht ist.
Aber man ging davon aus, dass der Krieg bald enden, die Menschen bald zurückkehren würden. Das war ein Fehlschluss, wohl auch aus Unerfahrenheit, denn die Türkei war vorher nie mit so einer Masse an Flüchtlingen konfrontiert gewesen und hatte damals gerade ihr Asylsystem umgestaltet. Es gab keine explizite Integrationspolitik für die Flüchtlinge und die Bevölkerung, um mit ihnen umzugehen. Das sorgte für Spannungen, die zusammen mit den Auswirkungen des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens zu einer strengeren Politik führten. Nach 2016 wurden zum Beispiel einige Unterbringungszentren für Migranten aufgrund der erdrückenden Situation in Abschiebezentren umgewandelt.
Auch die Behörden waren überfordert und gewährten den Flüchtlingen aufgrund mangelnder Kapazitäten nur einen vorübergehenden anstatt eines individuellen internationalen Schutzstatus. Bis heute dürfen syrische Flüchtlinge nur mit Bewilligung die Stadt, in der sie leben, verlassen, es gibt also eine Einschränkung der Grundrechte durch diesen vorübergehenden Schutzstatus.
In den letzten Wahlkämpfen wurden die Syrer zu den Sündenböcken für die wirtschaftliche Lage in der Türkei gemacht; die Parteien versprachen, die Flüchtlinge zurückzuschicken. Geschieht das bereits?
Es gibt wenige freiwillige Rückkehrer aus der Türkei nach Syrien, laut offiziellen Statistiken überwiegend in den Norden des Landes, den die Türkei kontrolliert. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Gebiete sicher sind. Den Menschen werden dort Unterkünften und Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Wir haben aber Zweifel darüber, wie die Verfahren der freiwilligen Rückkehr angewandt werden, weil es keinen im Detail geregelten rechtlichen Rahmen dafür gibt.
Welche Auswirkungen hatte das Flüchtlingsabkommen, das die EU mit der Türkei 2016 geschlossen hat, auf die Situation der Flüchtlinge?
Das Flüchtlingsabkommen von 2016 sah vor, dass Ankara irreguläre Migranten, die aus der Türkei über die griechischen Inseln versuchten, in die EU zu gelangen, zurücknehmen und die Menschen von der Ausreise abhalten muss. Die EU leistete finanzielle Unterstützung für die Asylsuchenden, aber keine Hilfe bei der physischen Verteilung. Das verschärfte die Situation in der Türkei, die Grundrechte der Flüchtlinge wurden dadurch eingeschränkt.
(Anmerkung: Bis 2023 sollte die Türkei neun Milliarden Euro von der EU für die Unterbringungen der Flüchtlinge und den Grenzschutz bekommen. Von März 2016 bis März 2020 gab es gerade einmal 2.140 Rückführungen aus Griechenland in die Türkei. Die EU hat gleichzeitig gezielt syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen, bis August 2021 rund 30.000.)
Das Abkommen wird immer beispielhaft für andere Flüchtlingsdeal genannt, etwa für das jüngste mit dem Libanon. Sehen Sie es als Erfolg?
Das hängt davon ab, wie man auf das Thema blickt. Die EU deklariert es als Erfolg, weil die Zahl der irregulären Migration aus der Türkei über die griechischen Inseln gesunken ist.
Laut UNHCR-Statistiken kamen jedoch 85 Prozent der Menschen, die diese Route passierten, aus Konfliktgebieten, waren also nach internationalem Recht und EU-Recht potenzielle Flüchtlinge. Das EU-Recht schreibt vor, dass die Rückübernahme durch ein sicheres Drittland erfolgen muss, in dem die Asylbewerber in Einklang mit der Flüchtlingskonvention geschützt werden. Unter diesem Gesichtspunkt war das Abkommen kein Erfolg, weil sie in der Türkei festgehalten wurden und nur vorübergehenden Schutzstatus erhalten haben. Mit dem Abkommen hat man den Menschen die Möglichkeit genommen, in Europa einen Asylantrag zu stellen – auch weil es keinen anderen als den irregulären Weg gibt, um in die EU zu kommen.
Gleichzeitig ist das Sterben im Mittelmeer weitergegangen. Es hört nicht auf, nur weil es solche Abkommen gibt.
Sie sind also gegen solche Flüchtlingsabkommen?
Wir sehen, dass in den Ländern, mit denen die EU solche Abkommen auf der Basis einer Externalisierungspolitik abschließt, das Gleichgewicht von Sicherheit und Freiheit gegen die Freiheit der Flüchtlinge und zugunsten der Sicherheit der Bevölkerung und der Vertragspartner ausfällt. Und dass der Umgang mit Flüchtlingen durch solche Abkommen viel restriktiver wird.
Die EU sollte sich bewusst sein, dass die Länder, mit denen sie Abkommen schließt, Ägypten, Libanon, Tunesien, nicht die Europäische Menschenrechtskonventionen ratifiziert haben. Es ist also sehr riskant, mit diesen Ländern Geschäfte zu machen, ohne zumindest am Papier bestätigt zu haben, dass dort ähnliche Grundrechte wie in der EU herrschen.
Selbst bei der Türkei, die offizieller Beitrittskandidat der EU und im Europarat vertreten ist, hat man gesehen, wie das Land überfordert wurde durch den Deal. Das Ergebnis ist ein strenges Regime, das die Idee der Harmonisierung der EU-Asylpolitik zunichtemacht.
Wie sollte die EU also agieren?
Die finanzielle Unterstützung der Nachbarländer von Krisen- und Kriegsgebieten ist sinnvoll, weil dort die meisten Menschen hin flüchten. Aber wenn diese Länder überfordert sind mit der Masse der Geflüchteten, dann widerspricht unsere finanzielle Hilfe dem Recht des internationalen Schutzes. Die EU versucht derzeit, ihre Verantwortung nach außen zu verlagern, denken Sie an das Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und Ruanda. Es braucht eine faire und gerechte Aufteilung auch der physischen Verantwortung, also der Aufnahme von Geflüchteten. Und es braucht reguläre Möglichkeiten des Schutzansuchens.
Derzeit gibt es aber keine Anzeichen, dass die EU die Absicht hätte, etwas an ihrer Asylpolitik zu ändern. Wenn es ihr wirklich darum geht, das Sterben von Menschen im Mittelmeer zu stoppen, dann sollte man vielleicht darüber nachdenken, wie man reguläre Wege schaffen kann, die Sicherheit und Freiheit garantieren.
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