Syrische Flüchtlingslager: "Zustände, die kann es eigentlich nicht mehr geben"
“Schau, das ist alles, was wir haben!” Die Stimme der Frau bebt vor Aufregung, als sie den hellblauen Waschkübel in die Luft hält. Das Wasser darin ist undurchsichtig, kleine, weiße Würmer kringeln sich darin. “Vor einem Jahr ist unser Brunnen ausgetrocknet”, ruft sie und deutet auf ein Feld in der Ferne. “Jetzt ist der Teich, aus dem die Tiere trinken, unser einziger Zugang zu Wasser - und der Bauer lässt uns auch noch dafür bezahlen.”
Es ist ein heißer Tag, die Sonne knallt auf die Bekaa-Ebene im Osten des Libanon. Hier, in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Baalbek, inmitten von provisorisch errichteten Zeltunterkünften, beginnt der herumliegende Müll bereits zu stinken. Die Frau, die sich dem KURIER als Ftem vorstellt, ist eine von rund 500 Syrern, die hier leben. Während sie spricht, huschen ihre Kinder zwischen Wäscheleinen, Hühnern und Ziegen umher, spielen Fangen und lachen laut. Es ist ein starker Kontrast zu dem, was Ftem vom Leben ihrer Familie erzählt.
Vom verschmutzten Wasser würden ihre Kinder ständig krank; das einzige Plumpsklo des Lagers gehe noch dazu bei starkem Regen über. "Meine Kinder hatten Läuse, sie hatten Krätze", zählt Ftem auf. Einen Arztbesuch könne sich die Familie nicht leisten, niemand im Lager besitze ein Auto. In ihrer Verzweiflung habe sie ihre Kinder in Chlor gebadet, die Tabletten habe ihr Mann einem Bauern abgekauft.
In der weiten Bekaa-Ebene gibt es Hunderte dieser Lager, offiziell werden sie als "temporäre Camps" bezeichnet. Ein zynischer Begriff, Ftems Familie floh schließlich vor zehn Jahren ins Nachbarland, wie die meisten der 1,5 bis zwei Millionen Syrer, die bis heute im Libanon leben. Doch weil die Regierung in Beirut fürchtet, aus den Lagern könnten dauerhafte Siedlungen werden, sind dort keine festen Baustoffe wie Beton oder Ziegel erlaubt.
Überhaupt nehmen die Spannungen zwischen Libanesen und Syrern zu: Die Flüchtlinge dürfen heute ohne entsprechende Genehmigungen weder arbeiten, noch Fahrzeuge anmelden. Ftems Mann arbeitet deshalb schwarz auf dem Feld eines Bauern. Doch seit im April sieben syrische Flüchtlinge wegen der Ermordung eines christlichen Abgeordneten des libanesischen Parlaments verurteilt wurden, hätten viele Libanesen ihre syrischen Schwarzarbeiter entlassen.
Ftem führt durch ihre Unterkunft, die aus Holzpflöcken und einer wasserundurchlässigen Zeltplane zusammengeschustert wurde. Hier lebt sie mit ihrem Mann und den sechs Kindern auf höchstens 20 Quadratmetern zusammen. Die Plane reicht nicht ganz bis zum Boden. "Wenn es regnet, steht hier das Wasser - dann müssen wir bei einer anderen Familie übernachten", erzählt sie. "Und im Winter kann es eiskalt werden."
"Das sind Zustände, die kann es eigentlich nicht mehr geben"
Hilfsorganisationen betreuen einige der Flüchtlingscamps, doch es sind schlicht zu viele, um allen zu helfen. Dieses Lager erhielt bisher nur sporadisch Hilfe, etwa bei Seuchenausbrüchen, doch es gibt Hoffnung: Das Rote Kreuz hat es ausgewählt, um dort schon bald ein Jahr lang im Zuge des WASH-Projekts (Water, Sanitation & Hygiene) Hilfe zu leisten, also Hygiene-Pakete, Medizin und sauberes Trinkwasser bereitzustellen.
"Die hygienische Situation und die mangelnde Wasserversorgung ist inakzeptabel", sagt Michael Opriesnig, Generalsekretär des österreichischen Roten Kreuzes, das die syrischen Flüchtlinge gemeinsam mit den libanesischen Kollegen unterstützt, beim Besuch in dem Flüchtlingscamp. Die Situation in den unbetreuten Lagern sei genauso wie bei seinem ersten Besuch 2015: "Das sind Zustände, die kann es eigentlich nicht mehr geben."
Nur knapp zwei Kilometer entfernt ist die Welt eine andere. Auch hier leben syrische Flüchtlinge in temporären Unterkünften, doch es sind weniger, sie stehen weiter voneinander entfernt und sind in deutlich besserem Zustand. Es ist ein Zeltlager, in dem das Rote Kreuz seit mehr als einem Jahr mit dem WASH-Programm aktiv ist. 10.000 Menschen konnte so alleine im vergangenen Jahr geholfen werden.
Jedes Haus verfügt hier über einen eigenen Trinkwasser-Behälter und ein eigenes Klo. Eine Familie hat um die beiden Trinkwasser-Kanister sogar ein kleines Blumenbeet angelegt. Unter einem Pavillon in der Mitte des Lagers haben sich ein Dutzend Kinder um zwei Hilfsarbeiter des Roten Kreuzes versammelt. Sie spielen das Ratespiel “glücklicher Zahn, trauriger Zahn” - und lernen dabei, welche Lebensmittel die Kariesbildung fördern.
In einem auf drei Zimmer ausgebauten Zelt spricht der KURIER mit Yusra. Vor acht Jahren ist sie als 19-Jährige mit ihren Eltern in den Libanon geflohen, hat zuerst in einem anderen Camp gelebt. Dort lernte sie Saed* kennen und lieben, die beiden heirateten, zogen gemeinsam in ein anderes Lager - und bekamen fünf Kinder.
Durch die bereitgestellte Medizin, die Hygieneprodukte und das Trinkwasser habe sich das Leben der Familie schlagartig verbessert, sagt Yusra: “Wir hatten auf einmal viel mehr Geld für andere Dinge.” Damit sei es ihnen möglich, ihre Kinder zur Schule zu schicken, auch wenn die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen die Schulgebühren übernimmt. “Aber den Schulbus, die Hefte und Bücher - das hätten wir vorher nicht bezahlen können.”
Yusras Mann Saed ist inzwischen zum Shaweesh dieses Lagers aufgestiegen: So nennt man den gewählten Anführer einer Gemeinschaft, der sich um die Organisation und den Kontakt mit Hilfsorganisationen und den Bauern kümmert, die das Land an die Flüchtlinge verpachten. Er arbeitet auf einer Baustelle, um die Familie zu versorgen, bekommt dafür zwei US-Dollar pro Tag.
Flucht vor dem IS: "Es gab ständig Luftangriffe"
Als der KURIER auf Saed trifft, trägt er einen dunkelblauen Jogginganzug und eine schwarze Kappe. Er ist ein schlanker Mann mit haselnussbraunen Augen, sein grauer Stoppelbart ist frisch getrimmt. Ein Privileg, das ihm früher nicht gestattet war. Saed ist 2015 aus Raqqa geflohen. Jener Stadt, die bis zur Niederlage der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) 2017 als Hauptstadt des ausgerufenen Kalifats diente.
Aus Angst, erkannt zu werden, möchte er seinen echten Namen nicht nennen und auch nicht fotografiert werden. “Sie zwangen uns, traditionelle Kleidung zu tragen und unsere Bärte wachsen zu lassen”, erinnert er sich. “Wer nicht für den IS kämpfen wollte, wurde besonders schikaniert.” Immer wieder habe es zur Kontrolle Hausbesuche durch die Terroristen gegeben.
Als Fabrikarbeiter hatte Saed bis zur Ankunft des IS ein gutes Leben. Doch er war gezwungen, all sein Erspartes für die Flucht auszugeben. “In dieser Zeit gab es ständig Luftangriffe rund um die Stadt, der Luftraum war gesperrt”, sagt er. Er sei deshalb von einem Bekannten mit einem Lkw in den nahegelegenen Irak geschmuggelt worden. Doch weil der IS auch dort sein Kalifat ausweitete, kaufte er ein Flugticket nach Beirut.
"Jede Nacht träume ich davon, an einen anderen Ort zu ziehen"
Das Leben in den Zeltlagern der Bekaa-Ebene sei zwar “sicher, aber ohne Perspektive”, sagt Saed. “Jede Nacht träume ich davon, an einen anderen Ort zu ziehen, damit meine Kinder eine Chance auf ein besseres Leben bekommen.” Die Rückkehr nach Syrien, wo bis heute gekämpft wird, sei jedoch “unmöglich, unsere Heimat ist völlig zerstört”.
Der Weg nach Europa wird für die Familie vorerst verschlossen bleiben. Erst letzten Donnerstag reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in den Libanon, um dafür zu sorgen: Mehr als eine Milliarde Euro erhält die libanesische Regierung von der EU, um zu verhindern, dass sich syrische Flüchtlinge auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer begeben.
Opriesnig ist nach dem Besuch im zweiten Lager zufrieden mit dem WASH-Projekt: "Wenn man beide Lager miteinander vergleicht, sieht man, was es ausmacht, wenn wir sauberes Trinkwasser bereitstellen." Man könne nicht allen helfen, aber der erfüllende Teil der Hilfsarbeit sei es, zu sehen, "dass wir die Lebensbedingungen der Menschen zumindest ein wenig verbessern können", so der Kärntner. "Und in sechs Wochen wird es auch im ersten Lager wieder anders ausschauen."
Dieser Artikel kam in Kooperation mit dem Österreichischen Roten Kreuz (ÖRK) zustande, das auch einen Teil der Reisekosten übernahm. Im Libanon hilft das ÖRK mit mehreren Projekten dabei, Flüchtlinge und Vertriebene zu versorgen.
Spendenkonto des Roten Kreuzes:
IBAN: AT57 2011 1400 1440 0144
Kennwort: Naher Osten
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