EU-Parlamentschefin: "Russland wird eskalieren, wir müssen uns vorbereiten"
Roberta Metsola ist keine Freundin von Beschwichtigungen und Herumgerede. Wenn die Präsidentin des EU-Parlaments in ihrem nüchtern gehaltenen Büro im 15. Stock des Gebäudes in Straßburg zum Interview bittet, wird gleich Klartext geredet: Die Ukraine brauche die rückhaltlose Unterstützung Europas, fordert sie - militärisch, politisch, wirtschaftlich. Warum sie sich mit beharrlichem Nachdruck für die Aufnahme der Ukraine in die EU einsetzt, erklärt die 44-jährige Maltesin im KURIER-Interview
KURIER: Wie können Sie sich so sicher sein, dass die Zukunft der Ukraine in der EU ist, wo doch dafür so viele Voraussetzungen fehlen?
Roberta Metsola: Die Ukraine war im Vergleich zu anderen Ländern bei den ersten Schritten sehr schnell, zunächst um den Kandidatenstatus zu erlangen. Das erste Treffen der EU-Kommissare in Kiew mit den jeweiligen ukrainischen Fachministern war ermutigend. Heißt das, dass es in der Ukraine kein Korruptionsproblem gibt? Nein. Man wird den Fokus künftig auf die Justiz, auf Verfahren, auf Abläufe richten müssen.
Aber der Fokus heute muss darauf gerichtet sein, dass sie genügend Waffen haben, um sich zu verteidigen. Wir müssen dabei helfen, dass die Ukraine ihr Territorium zurückbekommt. Denn das ist die wirkliche Gefahr: Dass die Ukraine nicht genügend Systeme zu ihrer Verteidigung hat.
Ist die Eröffnung eines EU-Beitrittsverfahrens noch heuer möglich, wie es sich der ukrainische Präsident Selenskij wünscht?
Meine Heimat Malta hat 10 Jahre im Beitrittsprozess gebraucht. Das war lange und schmerzhaft, aber es hat uns ermöglicht, unsere Gesetzgebung und die Umsetzung der Gesetze zu erneuern. Ich will es deshalb den Beitrittsprozess wieder aus einem positiven Blickwinkel sehen. Für die Ukraine gibt es schon Roaming-Abkommen, Zugang zum EU-Forschungsprogramm Horizon, niedrigere Handelstarife – das ist schon viel für die Ukraine. Wenn sie Zugang zum Beitrittsprozess bekommt, gibt es auch viel Geld.
Und das Timing für die Eröffnung des Beitrittsprozesses?
So schnell wie möglich, ich würde noch 2023 sagen. Den Prozess zu eröffnen, heißt noch lange nicht, ihn zu beenden, wir müssen ihn Kapitel für Kapitel abarbeiten. Aber wir können nicht einerseits sagen: Wir kämpfen mit euch in diesem Krieg. Und auf der anderen Seite: vielleicht Oktober, vielleicht November, vielleicht nie. Wir können über Dinge wie Lebensmittelkennzeichnungen sprechen, aber die Ukraine kämpft unseren Krieg. Für uns wird es jetzt immer schwieriger, der Ukraine zu helfen.
Die nächste Sanktionsrunde wird schwieriger errungen werden, die Bereitstellung von Munition zuliefern, die Lieferung von Waffen. Es wird immer schwieriger. Russland wird eskalieren und wir müssen uns vorbereiten.
Wie würde denn so ein riesiges und so armes Land die Machtverhältnisse in der EU verändern?
Wir müssen uns umfassend vorbereiten. Dazu gehört etwa, die gesamte gemeinsame Landwirtschaftspolitik neu zu denken – angesichts der riesigen Agrarflächen der Ukraine. Dieses Argument gab es auch einst gegen Polen und gegen Rumänien. Ich gehöre nicht zu denen, die Angst davor haben, als EU größer zu werden. Ich sage lieber: Bereiten wir uns vor! Und ich frage mich auch: Haben wir genug getan? - etwa angesichts Bulgariens und Rumäniens Nicht-Zugang zu Schengen, obwohl sie alle rechtlichen Voraussetzungen erfüllt haben.
Im Jänner des Vorjahres wurde die 44-jährige Maltesin zur Präsidentin des EU-Parlaments gekürt. Zehn Jahre lang war die Juristin und Europarechtsexpertin Abgeordnete im EU-Parlament. Sie wurde von ihrem christdemokratischen Parteifreund Manfred Weber, dem Chef der EVP-Fraktion, für die Führungsposition vorgeschlagen.
Weber brachte die Mutter von vier Söhnen sogar schon als mögliche Nachfolgerin von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ins Spiel.
Metsola war noch kein Jahr im Amt, da poppte der Korruptionsskandal ("Qatargate") im EU-Parlament auf. Seither legte sie 14 Maßnahmen vor, um ähnliche Vorfälle zu verhindern. Viel Kritik erntete aber auch sie, als sie 125 Geschenke erst verspätet meldete sowie eine Wochenendeinladung in ein Luxushotel.
Sie sagen immer wieder: Die Ukraine muss den Krieg gewinnen. Was bedeutet das?
Ich sage das, weil ich denke, dass Appeasement keine Lösung ist. Was die Ukrainer als Sieg sehen, müssen sie selber sagen. Niemand von uns kann den Ukrainern vorgeben: Jetzt habt Ihr genug gewonnen oder Ihr habt genug verloren.
Das war eine Invasion - und sie wird fortgesetzt werden, Moldau etwa könnte schon das nächste Opfer sein. Putin zeigt überhaupt kein Anzeichen, dass er jetzt den Krieg stoppen will. Wenn es ein Ende des Krieges geben soll, muss es mit Frieden, mit Gerechtigkeit und mit Würde einhergehen.
Das bedeutet, die Kriegsverbrecher müssen zur Verantwortung gezogen werden. Und es bedeutet auch, wenn wir zusammenkommen, um wieder aufzubauen, dass dann wird Europa geostrategisch gesehen nie mehr wie vorher sein wird.
Fürchten Sie keine Kriegsmüdigkeit der Europäer oder anders gefragt, wie solide ist die europäische Einheit gegenüber der Ukraine?
Ich war in Sorge, als im Herbst die Inflationszahlen so gestiegen sind, und als die Gasspeicher für den Winter gefüllt werden mussten. Aber unter den europäischen Regierungschefs habe ich bisher keine solche Müdigkeit gesehen. Ich reise viel in die EU-Länder, und alle habe ihren speziellen Sorgen: das Wohnen, echte Angst vor neuer Migration. Aber um dagegen anzugehen, dafür haben wir finanzielle Mittel.
Worauf ich mich bei den EU-Wahlen 2024 besonders fokussieren will, ist, dass wir uns nicht noch einmal auf die Migration konzentrieren. Je weiter weg wir in der Migrationsfrage von der Gesetzgebung in die starke Emotion hinein gehen, umso gefährdeter ist unsere Einheit in Europa. Das ist meine echte Sorge, aber wegen der Ukraine werden wir unsere Einigkeit nicht verlieren.
Aber viele Menschen machen sich doch auch Sorgen und fürchten, in den Krieg hineingezogen zu werden, wenn wir noch mehr Waffen schicken.
Tatsächlich, diese Angst ist spürbar in Deutschland, aber auch in Frankreich und Spanien. Deutschland ist hier ein spezieller Fall: Es hat eine Führungsrolle zu spielen. Sogar in die Berliner Bürgermeisterwahlen hat das hineingespielt. Aber Angst soll nicht der neueste, politische Schlachtruf werden. Da wird immer Angst gepredigt. Angst vor dem anderen, dem Fremden, dann während der Pandemie die Angst vor den Impfstoffen, und jetzt Angst davor, in einen Krieg zu schlittern. Das ist immer dasselbe Narrativ.
Zum Korruptionsskandal: Wie fühlt es sich an, das Gesicht jener Institution zu sein, in der der Skandal aufkam?
Schrecklich. Ich hatte zwei Möglichkeiten und sagte mir: Entweder habe ich den Skandal geerbt oder ich gehe dagegen an. Wenn ich letzteres nicht tun würde, könnte ich meinen Job nicht machen. Wird es nun nie wieder vorkommen? Das kann ich nicht sagen.
Aber was ich weiß: Unsere Alarmglocken hätten früher läuten müssen. Ich habe nun Maßnahmen vorgeschlagen. Die einen sagen, es sei zu viel, die anderen, sagen, es ist zu wenig. Aber zumindest können wir Feuerwälle bauen, um die Dinge zu erschweren, um kriminelle Korruption zu verhindern. Mit Bargeld!!! Wer hätte das gedacht, dass das je passiert.
Wir müssen unsere Arbeitsarrangements reorganisieren. Wir kooperieren mit der belgischen Polizei, haben Immunitäten aufgehoben.
Aber es ist noch nicht vorbei. Es wird mehr kommen. Geweint habe ich deswegen nicht. Geweint habe über eine sehr schwierige Krebserkrankung von Freunden. Aber deswegen? So ein Mist!
Reichen die vorgeschlagenen Maßnahmen, um das Vertrauen der Bürger wieder herzustellen?
Ich will nicht, dass die Europäische Union so gesehen wird. Ich habe mein ganzes Leben gegen politische Korruption gekämpft, deswegen bin ich hier.
Dürfen Abgeordnete Geschenke annehmen? Dürfen sie sich bei Reisen einladen lassen?
Das war bisher schon eine Regel: Wenn man ein Geschenk im Wert von mehr als 150 Euro erhält, muss man es zurück- oder dem Parlament übergeben. Kein Geschenk hier in diesem Raum gehört mir, und es wird hierblieben, wenn ich wieder weg bin. Aber alles muss registriert werden. Reisen müssen deklariert werden.
Die Präsidentin des EU-Parlaments muss es deklarieren, aber nicht öffentlich publik machen, keiner vor mir hat das je getan. Manche Gruppen im Parlament wollen Einladungen ganz abschaffen. Aber es ist ein Unterschied, ob man 22 Tage lang nach Venezuela eingeladen wird oder für einen Vortrag nach Harvard.
Man hätte schon bisher melden müssen, wenn es bei Nebenjobs zu Interessenskonflikten kommt, aber wenige Abgeordnete haben es getan.
Das Interview fand zusammen mit Journalisten von Politiken (Dänemark), l´Echo (Belgien) undd Publico (Portugal) in Straßburg statt.
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