Erdoğan und die Türkei: Eine Außenpolitik à la Anatolien
Ingrid Steiner-Gashi
23.05.24, 10:00In unserer Reihe "Warum sollte mich das interessieren?" behandeln Ingrid Steiner-Gashi und Evelyn Peternel Themen, die manchmal noch weit weg erscheinen, für jede und jeden hier in Österreich jedoch große Bedeutung haben.
„Der EU-Beitritt der Türkei ist eine Illusion“, sandte Außenminister Alexander Schallenberg jüngst der türkischen Führung entgegen, noch ehe er in Ankara gelandet war. In der Türkei selbst ist diese Tatsache längst angekommen: Die erhoffte Visaerleichterung oder eine Reform der veralteten Zollunion mit der EU sind für die knapp 85 Millionen Menschen in der Türkei in unabschätzbare Ferne gerückt.
Eine Folge davon: „Junge Leute reisen nicht mehr so oft nach Europa, dadurch gibt es immer wenige Nähe, immer weniger Verbindung zu Europa“, schildert Bruno Hampelt, Türkei-Experte an der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara.
Der Frust darüber, bei den bereits vor fast 20 Jahren begonnenen EU-Beitrittsgesprächen kaum vorangekommen zu ein, ist allerdings schon einem anderen Blick auf die Welt gewichen.
„Während die türkischen Führer nach Staatsgründer Atatürk im 20. Jahrhundert noch eine emotionale Bindung zu Europa hatten, gibt es die unter Erdoğan nicht mehr“, schreibt Soner Cagaptay vom Think Tank Washington Institut in einem Artikel für das Foreign Affairs. „Die Türkei ist jetzt mehr von ihren eigenen Kräften überzeugt.“ Und die haben das Land am Schnittpunkt von Orient und Okzident in den vergangene Jahren eindeutig vom Westen weggeführt.
Regionalmacht
Selbstbewusst spielt die Türkei ihre unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan eingeleitete Rolle als Regionalmacht aus – ohne sich von Brüssel oder Washington an die lange Leine nehmen zu lassen.
Mit dem Iran gelang Ankara ein Verhältnis unter Wettbewerbern ohne in Rivalität auszuarten. Mit den ebenfalls unruhigen Nachbarn Syrien und Irak hat sich die Türkei arrangiert, mehr noch – bombardiert sogar hinein, wenn die kurdischen Kämpfer dort Ankara verärgern.
Mit Kremlherrn Putin pflegt Erdoğan ein passables Verhältnis. So gut immerhin, dass die Türkei monatelang die Sanktionen gegen Russland umging, indem von Kühlschränken bis Muttermilchpumpen alles verstärkt geliefert wurde, wo sich Chips ausbauen lassen und dann in Russland für Waffen genutzt werden kann.
Gleichzeitig beliefert die Türkei die Ukraine mit Drohnen und Waffen. Und beste Beziehungen mit den „Brüdern“ in Aserbaidschan pflegt Ankara ohnehin.
Fünf Milliarden aus Riad
Selbst mit Saudi-Arabien steht Erdoğan wieder auf gutem Fuß, vor allem, nachdem Riad fünf Milliarden Dollar überwiesen und so die wirtschaftliche Not in der Türkei ein wenig gelindert hat. Kurzum: Nach allen Seiten spielt die Erdoğan-Türkei ihre Muskeln aus, Außenpolitik erfolgt interessengeleitet à la carte und nicht mehr nach den vorgegebenen Menü des Westens.
„Anatolische Linse“
Der Grund, warum sich dies so geändert hat, ist nicht nur in der zwei Jahrzehnte langen Amtszeit des türkschen Präsidenten zu sehen. Erdoğan, so erklärt es Experte Soner Cagaptay, sei „nicht die Ursache, sondern vielmehr das Symptom dieses Wandels“.
Anders als noch bis vor zwanzig, dreißig Jahren sind heute in Ankara nicht mehr die alten, Europa traditionell eng verbundenen Eliten am Ruder. Stattdessen regiert heute eine aus Anatolien stammende Mittelschicht, sitzen aus Anatolien stammende Beamte in den Verwaltungsapparaten. Und diese neuen, aus Anatolien stammenden Eliten, die das Land auf die kommenden Jahre prägen werden, sind frommer, islamisch-konservativer und sehen die Welt laut Cagapty „durch die anatolische Linse“.
Wichtigstes Werkzeug dieses Kurses ist Erdoğans AK-Partei. Diese gewaltige Maschine, angetrieben von Millionen Wählern, Geschäftsleuten, neuen Eliten aus dem anatolischen Hinterland hat bei den jüngsten Lokalwahlen im März zwar eine Schlappe erlitten. Doch wenn es um die außenpolitische Rolle der Türkei gehe, stehe die gesamte Bevölkerung geschlossen hinter Erdoğan, sagt Türkei-Experte Hampelt.
„Es gibt hier diese Idee von ,decline of the west – rise of the rest’ – also dem Niedergang des Westens und dem „Aufstieg des Rests“. Darin sieht sich die Türkei in einer entscheidenden Rolle. Ein EU-Beitritt ist dabei nicht mehr vorgesehen.
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