"Eine Illusion"
Dass sich das Klima dennoch um ganze Temperatursprünge gebessert hat, ist umso überraschender, als Außenminister Schallenberg gleich nach seiner Ankunft in Ankara am Montag postuliert: „Der EU-Beitritt der Türkei ist eine Illusion.“ Die Türkei bewege sich seit Jahren von der EU weg, sagte er, und deshalb werde der seit 2016 eingefrorene Beitrittsprozess auch nicht wieder aufgenommen.
Doch: „Obwohl – und gerade weil – wir bei vielen Themen nicht einer Meinung sind, ist der pragmatische Dialog umso wichtiger“, sagt auch Schallenberg. "Noch mehr Zusammenarbeit" fordert auch sein türkischer Amtskollege Hakan Fidan ein. Der frühere Leiter des mächtigen türkischen Geheimdiensts ortet zwar eine "gewisse diskriminierende Haltung der EU gegenüber der Türkei", hält sich damit aber nicht weiter auf. Der Beitritt zur EU ist in der Türkei schon lange nicht mehr Thema Nummer Eins.
Geredet und kooperiert wird zwischen Österreich und der Türkei derzeit besonders beim Thema Sicherheit und Kampf gegen den Terrorismus. Gemeinsam versucht man nun, Terrorspuren nachzugehen und Schlepperbanden auszuheben. Denn die beginnen nun, weltweit auf immer riesigerem Niveau zu agieren. Bis zu 100.000 Mitglieder zähle etwa ein den Geheimdiensten bekanntes Schlepper-Netzwerk, erzählt ein hoher Beamter dem KURIER. Das führe dazu, „dass jetzt schon erste Flüchtlinge aus Haiti in der Türkei eingetroffen sind.“ Der Kampf gegen Menschenschmuggel müsse deshalb genauso hart wie der Kampf gegen den Drogenschmuggel geführt werden, pflichtet Schallenberg bei.
Groß gewordene Regionalmacht
Abseits der EU blickt eine unter Erdogan machtbewusst gewordene Türkei in viele andere Richtungen: Sie hat in den vergangenen Jahren ihre außenpolitische Rolle breit ausgespielt, sie mischt in der Nachbarschaft, in Libyen und in einigen afrikanischen Staaten massiv mit. Präsident Erdogan gab der Armee freie Hand, militärisch in den Kurdengebieten Nordsyriens und des Nordirak einzugreifen. Ankara stärkte Aserbaidschan bei der Rückeroberung der Enklave Berg-Karabach von Armenien den Rücken. Und was die Position gegenüber Nordzypern und den Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer betreffe, stünden sowieso alle türkischen Parteien geschlossen wie eine Mauer hinter der Linie des türkischen Staatschefs, meint Türkei-Experte Walter Glos. Dieses neue regionale Selbstbewusstsein signalisiere auch in Richtung Europa: „Wir warten nicht auf euch. Wenn ihr euch nicht bewegt, werden andere da sein.“
In der NATO weiß man es schon immer, in der EU spätestens seit dem 2016 geschlossenen Flüchtlingspakt: Die Türkei wird gebraucht, auch mit ihrem oft erratisch agierenden Staatschef Erdogan. Für die USA ist die geostrategische Lage bei ihrem militärischen Vorgehen im Nahen Osten unverzichtbar, für die EU das türkische Versprechen, die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge nicht nach Europa weiter zu schicken.
Das Ziel, gegen die illegale Migration vorzugehen, teile man mit der Türkei, sagt Schallenberg – bei anderen Themen allerdings gehen die Interessen diametral auseinander. Doch selbst das, meint der Außenminister, müsse nicht von Nachteil für Europa sein. „Die Türkei versucht für sich, eine Scharnierfunktion in Anspruch zu nehmen.“ Heißt so viel wie: Die Türkei beliefert sowohl die Ukraine mit Drohnen, gepanzerten Fahrzeugen, Waffen - umgeht andererseits aber die Sanktionen gegen Russland und kann mit Kremlherrn Putin reden.
"Balancieren" nennt sich dieser außenpolitische Kraftakt - und der wird auch außerhalb der Türkei mit Interesse wahrgenommen. Denn: Wer eines Tages wieder mit Putin verhandeln will, wird an der Türkei, zumindest als Hilfesteller, nicht vorbei kommen.
Andererseits vertritt die türkische Regierung "einen klare Pro-Hamas-Position. Dahinter steht der Plan: Wenn der militärische Flügel der Hamas einmal besiegt sein wird und Israel verhandeln muss, werde sich die Türkei an der Seite der politischen Hamas in diese Verhandlungen einbringen und dadurch weltweit Relevanz gewinnen", schildert Özgür Unlühisarcikili. Der Chef des German Marshall Funds in Ankara stellt aber gleich fest: "Ein ehrlicher Vermittler ist die Türkei hier nicht."
Die Türkei beherbergt das zweitgrößte Auslandsbüro der Terrororganisation Hamas und stellt sich radikal gegen Israels militärisches Vorgehen in Gaza. Kein arabisches Land hat die Handelsbeziehungen zu Israel eingestellt, so wie es Erdogan der Türkei verordnete. In der Unterstützung für die Palästinenser weiß Erdogan das ganze Land geschlossen hinter sich. Wer mit dem Auto nach Ankara fährt, kommt an einer Hauswand mit unübersehbarem Graffiti vorbei: „Baby Killer Netanjahu“ ist darauf zu lesen – neben einem roten Hakenkreuz.
Breitseite gegen Israel
Eine wahre Breitseite gegen Israels Regierung feuert schließlich auch der türkische Außenminister Hakan Fidan in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Schallenberg ab. "Israel ist ein Besatzerstaat. Jeder hat damit gerechnet, dass es zu einer Explosion kommt - das war der 7. Oktober. Israel hat Millionen Menschen vertrieben, hat getötet. Die Hamas ist keine Terrororganisation, sie ist eine bewaffnete Widerstandsbewegung." Es sei falsch gewesen, so der türkische Chefdiplomat weiter, dass früher Juden in Konzentrationslager zusammengetrieben worden seien. "Aber genauso ist es ein Fehler, dass heute die Mütter und Kinder in Gaza bombardiert werden. Zivilisten werden getötet. Man kann es nicht gutheißen, wenn die Unterdrückten von einst heute unterdrücken", sagte Fidan.
Doch er sagte auch: Die internationale Gemeinschaft müsse Hand in Hand "diesen Wahnsinn stoppen". Am Ende des Krieges müsse eine Zwei-Staaten-Lösung stehen.
Und doch hat selbst diese, von Österreichs Regierung vehement abgelehnte Position Ankaras einen Vorteil. Über die Drähte der Türkei zur Hamas, so hofft man, könnte in geheimen Gesprächen mehr über das Schicksal der österreichischen Geisel in den Händen der Terroristen in Erfahrung gebracht werden. "Wir werden alle Kanäle nützen." Von türkischer Seite sei ihm zugesagt worden, diesbezüglich alles zu versuchen, bestätigte Schallenberg. "Es braucht eine Waffenruhe", fordert er. "Am Ende des Tages braucht es eine Zwei-Staaten-Lösung - und da kommen wir mit der Position der Türkei wieder zusammen."
Hinweis: Der KURIER begleitete Außenminister Schallenberg bei seiner Türkei-Reise und übernahm dafür einen Teil der Kosten.
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