Kenan Güngör: Das hat mit der Gastarbeitergeschichte zu tun. Europa hat großteils ärmere, religiös-konservative Landbevölkerung als Arbeitskräfte geholt. In Österreich ist der Anteil der aus Zentralanatolien stammenden Gastarbeiter besonders hoch, höher als zum Beispiel in Deutschland. Zentralanatolien ist eine Hochburg der AKP. Weil die Türkei ein dynamisches Land mit großer sozialer Pluralisierung und breiten Bildungsschichten in den Städten ist, ist die Zustimmung zur Opposition vergleichsweise höher. Zudem spüren die Menschen in der Türkei die negativen Konsequenzen der AKP-Politik viel stärker als jene türkischen Staatsbürger, die im Ausland leben.
KURIER: Inzwischen gibt es ja auch in Österreich eine zweite und dritte Generation. Wieso hält sich die anatolisch-ländliche Prägung zum Beispiel auch bei Türken in Wien?
Güngör: Man muss wissen, dass die AKP die Medien gleichgeschaltet hat. Diese sind voll vom Personenkult um Erdoğan und einer nationalistisch-islamistischen Propaganda. Das beeinflusst das Weltbild und Narrative der Menschen hier und auch in der Türkei. Zudem haben AKP-nahe Vereine in Österreich über die Mobilisierung zum Wahlergebnis beigetragen. Und dass die zweite und dritte Generation dafür so empfänglich ist, hat auch etwas mit Anerkennung zu tun.
Sie meinen, weil sie in Österreich nicht gleichwertig behandelt werden, verfängt die nationalistische Propaganda umso mehr?
Ja, auch. Erdoğan gibt ihnen den Nationalstolz und Selbstwert, den sie hier nicht bekommen. Er sagt: „Die wollen Euch nicht, weil Ihr Türken bzw. Muslime seid. Ich aber bin immer für Euch da, egal, wo Ihr seid.“ Es stellt sich auch die Frage, warum eine zweite oder dritte Generation über das Schicksal eines Landes mitbestimmen soll, in dem sie nicht leben, und die Konsequenzen der Entscheidungen nicht sie, sondern die Menschen vor Ort tragen müssen. Das wird auch vermehrt beklagt.
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Dann müssten Austro-Türken österreichische Staatsbürger werden und hier wählen.
Viele tun das aus emotionaler Bindung nicht, sie möchten ihre türkische Staatsbürgerschaft nicht ablegen. Zudem erschwert das restriktive österreichische Staatsbürgerschaftsrecht die Einbürgerung.
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