Um kurz vor zwei Uhr morgens trat der Präsident auf den Balkon der AKP-Zentrale in Ankara. Er sprach zu "seinem Volk", wie er es schon so oft nach Wahlen in den vergangenen 20 Jahren getan hat. "Jemand ist in der Küche und wir sind auf dem Balkon", begannRecep Tayyip Erdoğan – eine Anspielung auf seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, der im Wahlkampf Videos in seiner Küche aufgenommen hatte.
Der Präsident gab sich siegessicher, ging zu der Zeit immer noch davon aus, in der ersten Runde zu siegen. Doch auch eine zweite Runde werde man "respektieren", meinte er vor seinen jubelnden Anhängern, bevor er ein türkisches Nationallied anstimmte.
Kılıçdaroğlu gab sich ähnlich zuversichtlich, und konterte noch in der Nacht: "Wahlen werden nicht auf dem Balkon gewonnen. Wenn sich unser Land für eine Stichwahl entscheidet, dann zu unseren Gunsten. Wir werden diese Wahl auf jeden Fall in der zweiten Runde gewinnen."
Am Montagnachmittag teilte die Wahlbehörde in Ankara mit, dass es zu einer Stichwahl kommen werde. Wirklich damit gerechnet hatten kurz vor der Wahl weder Erdoğans islamistisch-konservative AKP noch das Oppositionsbündnis. Doch nach fast vollständiger Auszählung kam Erdoğan in Runde eins auf 49,4, Kılıçdaroğlu auf 45 Prozent. Die Stichwahl ist für den 28. Mai angesetzt. Es wird das erste Mal sein, dass sich Erdoğan einer stellen muss, und wohl die größte Herausforderung seiner zwei Jahrzehnte währenden Amtszeit in der Türkei.
"Es gibt keinen Gewinner"
"Diese Wahl hat keinen Gewinner", fasste der renommierte Politologe Hüseyin Bağcı, Präsident des Foreign Policy Institutes und Professor an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara, am Montagvormittag für den KURIER zusammen. "Erdoğan hat es trotz seines mächtigen Staatsapparats nicht geschafft, die 50-Prozent-Marke zu knacken. Und Kılıçdaroğlu hat sich zu sehr auf die Umfragen und vor allem die Erdbebengebiete verlassen."
Die hätten nämlich allen Prognosen und dem schlechten Krisenmanagement der Regierung nach der Katastrophe zum Trotz mehrheitlich für Erdoğan gestimmt. Bağcı macht dafür das (unrealistische) Versprechen Erdoğans verantwortlich, das betroffene Gebiet innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen, sowie Geldgeschenke im Wahlkampf.
Gleichzeitig könnten konservative, mehrheitlich sunnitische Muslime letztlich doch Vorbehalte gehabt haben, für den Aleviten Kılıçdaroğlu zu stimmen. Im Wahlkampf hatte sein „Outing“ vor allem bei den Minderheiten für Popularität gesorgt
Wenn es überhaupt einen Gewinner des Abends gibt, dann ist es der türkische Nationalismus.
Dem konnte selbst die katastrophale wirtschaftliche Lage, in der sich die Türkei befindet und die eines der großen Wahlkampfthemen war, nichts anhaben. Und er ist nicht nur wesentlicher Teil von Erdoğans Propaganda, sondern nach wie vor fest in der Bevölkerung verankert.
Extremnationalistischer "Königsmacher"
Das zeigt sich einerseits an den Erfolgen der nationalistischen Parteien in den Ergebnissen der Parlamentswahlen: Sowohl die ultranationalistische MHP, die mit Erdoğan koaliert, als auch die nationalistische İyi-Partei des Oppositionsbündnisses kamen auf jeweils rund zehn Prozent. Die kurdische HDP, die Kılıçdaroğlu unterstützte, aber eigenständig auf der Parteiliste der Grünlinken Partei YSP kandidierte, kam auf 8,8 Prozent.
Ebenfalls dafür sprechen die überraschenden 5,2 Prozent, die der extremnationalistische Präsidentschaftskandidat Sinan Oğan geholt hat – obwohl ihm so gut wie keine Chancen auf einen Sieg (maximal zwei Prozent in den Umfragen) prophezeit worden sind. Er wird der "Königsmacher" der Stichwahl sein, so Bağcı.
Für wen sich Oğan aussprechen wird, ist noch offen. Der Nationalist gilt aber als extrem kurdenfeindlich, und hat bereits angekündigt, für das Oppositionsbündnis nur dann eine Wahlempfehlung abgeben zu wollen, wenn es sich sich von der kurdischen Minderheit distanziere. Das gilt allerdings als unwahrscheinlich.
Erdoğans Vorteil in einer Stichwahl
Seine Unterstützung gilt somit dem Amtsinhaber sicherer. Und noch etwas spricht für einen Vorteil Erdoğans in einer Stichwahl: die Verteidigung der Mehrheit seiner islamisch-konservativen AKP mit der MHP in der Großen Nationalversammlung.
Sollte Kılıçdaroğlu bei einer Stichwahl gewinnen, könnten sich Parlament und Präsident theoretisch blockieren, was zu einer Regierungskrise führen könnte. Erdoğans wird mit diesem Angst-Szenario wohl Wahlkampf bis zur Stichwahl machen. Er sei sich sicher, die Wähler bevorzugten "Sicherheit und Stabilität", sagte er bereits in der Nacht.
Bis zum 28. Mai dürfte es jedenfalls härter zur Sache gehen als in den vergangenen Wochen. "Wir werden jedenfalls einen nationalistischeren Ton in der Türkei erleben. Erdoğan wird das zusätzlich schüren", so der Politologe.
Erdoğan dürfte sich auf seinen Vorwurf setzen, die Opposition werde von kurdischen Terroristen unterstützt. Kılıçdaroğlu wird wohl den autoritären Führungsstil Erdoğans hervorheben. Bağcı spricht von einer "politischen Folter", die der türkischen Bevölkerung bevorstehe. "Aber daran sind wir ja bereits gewöhnt."
Beobachter betonen dennoch, dass sich der Wind in zwei Wochen noch drehen könnte. Diese Hoffnung hegen vor allem Oppositionswähler noch.
(kurier.at, cfer)
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Aktualisiert am 15.05.2023, 16:28
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