Dauerbeschuss, Tote und Gefechte auf 1.100 Kilometern Front
Von Wien bis Kiew – oder von Wien bis Paris – erstreckt sich die Frontlinie in der Ukraine: Etwa 1.100 Kilometer, an denen täglich tonnenweise Artilleriemunition verschossen wird, Soldaten wie Zivilisten auf beiden Seiten sterben – und wo seit Wochen keine nennenswerten Offensiven mehr stattfinden. Zu stark scheinen die Frontabschnitte befestigt – indes werden manche Orte zu regelrechten „Fleischwölfen“, wo zahlreiche Soldaten unter dem Feuer der Artillerie ihr Leben lassen. Ein Überblick über die einzelnen Frontabschnitte und die Möglichkeiten erneuter Offensiven:
Cherson
Zehntausende ukrainische Soldaten wurden im Oktober zusammengezogen, um die Oblast-Hauptstadt im Süden der Ukraine zu stürmen. Bei ersten Angriffen erlitten sie massive Verluste durch die russische Artillerie. Doch die Militärführung – allen voran der neu eingesetzte Kommandant der russischen Truppen in der Ukraine, Sergej Surowikin - wusste: Auf lange Sicht war die Stadt nicht zu halten. Man leitete einen raschen Rückzug ein, der vor allem Wladimir Putin und der Kreml-Führung Wut aus dem Lager der russischen Kriegsbefürworter entgegenbrachte. Wenige Wochen zuvor hatte Putin das Gebiet westlich des Flusses Dnepr annektiert – jetzt gab man aus russischer Sicht russisches Territorium auf.
Und vor allem die Aussicht, jemals die Stadt Odessa einzunehmen. Der Dnepr fungiert nun als natürliche Barriere – und so rasch dürfte es in diesem Frontabschnitt zu keinen neuen Offensiven kommen. Zu breit ist der Fluss als dass ihn größere Verbände unbemerkt und vor allem unbeschadet überqueren könnten.
Kleinere Kommandooperationen finden nach wie vor statt, täglich beschießen beide Seiten einander mit Artillerie. Die große Frage in diesem Abschnitt wird sein, wie es mit dem AKW Saporischschja weitergeht: Bleibt es unter russischer Verwaltung? Gibt es einen UN-Kompromiss, wonach eine Sicherheitszone eingerichtet werden soll? Oder wird das Gelände dereinst bitter umkämpft sein?
Saporischschja/Melitopol
Nämlich dann, wenn die ukrainischen Streitkräfte eine erfolgreiche Offensive südlich der Stadt Saporischschja starten würden. Die Hauptstoßrichtung dürfte allerdings direkt nach Süden zur Stadt Melitopol gehen. Würden die Ukrainer diese 80 Km südlich der Front gelegene Stadt befreien, wäre der Nachschub der russischen Streitkräfte in den Oblasten Cherson, Saporischschja sowie der Krim nur noch über die Brücke von Kertsch möglich.
Doch die russischen Einheiten haben ebenso das Gelände vor Melitopol massiv befestigt. Eine erfolgreiche ukrainische Offensive wäre wohl nur unter heftigen Verlusten möglich. Somit beschränken sich die ukrainischen Kräfte derweil auf Guerillakrieg: Kürzlich wurde eine wichtige Brücke bei Melitopol gesprengt, immer wieder gibt es Anschläge auf Munitionslager. Allerdings haben auch die Russen ukrainische Taktiken antizipiert: Die HIMARS-Artillerie, die noch im Sommer regelmäßig russische Depots zerstört hatte, geht mittlerweile leer aus – da die Russen ihre großen Lager aufgelöst haben. Von russischer Seite dürfte in Richtung der Stadt Saporischschja im Gegenzug derzeit nicht so viel zu erwarten sein – ihr Schwergewicht liegt anderswo. Vorerst.
Oblast Donezk
Hier finden seit geraumer Zeit die heftigsten Gefechte statt – allen voran im „Fleischwolf Bachmut“. Die Stadt, die seit der Befreiung Isjums und Lymans de facto strategisch unbedeutend ist, wird heftig umkämpft: Die Söldner der Wagner-Gruppe rücken an einigen Gebieten rund um die Stadt langsam vor, erleiden allerdings hohe Verluste und werden teilweise nach wenigen Tagen wieder zurückgeschlagen. Im Gegenzug sterben allerdings auch zahlreiche Ukrainer bei der Verteidigung der Stadt.
Videos von heftigen russischen Artillerieangriffen machen im Netz die Runde, gleichzeitig setzen die ukrainischen Streitkräfte neuartige Munition mit Bomblets – also Mini-Sprengsätzen – gegen russische Schützengräben ein. Auch die Bombardements ziviler Infrastruktur in der russisch besetzten Stadt Donezk haben in den vergangenen Wochen zugenommen, hier sterben immer wieder Zivilisten durch ukrainischen Beschuss.
Keine sieben Kilometer westlich der Großstadt verläuft die Front, wo die Russen im Spätsommer eines von insgesamt drei Grabensystemen einnehmen konnten – seither stockt der Angriff. Auch an dieser Front haben russische Verbände viel Zeit in den Ausbau ihrer Verteidigungsstellungen investiert. Es ist allerdings durchaus denkbar, dass Moskau den Druck im Raum Donezk künftig erhöhen wird, um das Minimalziel – die Einnahme des gesamten Oblasts – zu erreichen. Dafür muss jedoch das Training von einigen zehntausend Reservisten abgeschlossen werden.
Oblast Lugansk
Die ukrainische Gegenoffensive im September war ein voller Erfolg für Kiew. Dass die Streitkräfte sogar den Oskol-Fluss überqueren konnten, war für die Russen eine empfindliche Niederlage. Gleichzeitig zogen sie sich so weit zurück, um rechtzeitig Verteidigungsstellungen auf- und auszubauen. Mittlerweile gehen Grabensysteme und Stacheldrahtzäune von der Ortschaft Swatowe bis zur russischen Grenze. Bisher konnten die russischen Verbände alle ukrainischen Angriffe zurückschlagen, gingen zeitweise selbst zum Gegenangriff über. Ein Durchbruch an dieser Front wäre wahrscheinlich nur unter hohen Verlusten möglich, würde aber den Weg gen Süden und damit die im Sommer verlorenen Städte Lyssytschansk und Sjewjerodonezk freimachen. Allerdings haben die Russen sogar an der Grenze von Lugansk und Donezk Stellungen errichtet, um im Ernstfall auch hier gegen eine Gegenoffensive gewappnet zu sein.
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