Der Minsker Flughafen am Montagnachmittag: Alexander Lukaschenko begrüßt sein russisches Pendant Wladimir Putin zu dessen erstem Besuch seit drei Jahren – die Staatskarossen fahren in Richtung Präsidentenpalast. Was dort genau besprochen wird ist unklar.
Drohkulisse
Der Besuch Putins reiht sich ein in eine neue Drohkulisse, die Moskau seit einigen Tagen aufbaut: Videos von Atomraketen, eine Truppeninspektion russischer Kämpfer in der Ukraine durch Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Sonntag. Ein Briefing für Putin durch Generalstabschef Waleri Gerassimow und den Kommandeur der Gemeinsamen Streitkräftegruppe in der Ukraine, Sergej Surowikin, am Samstag.
„All das ist eine Botschaft des Kreml an die Welt: ,Seht her, da braut sich etwas zusammen’“, analysiert der Ukraine-Experte und Oberst des Generalstabsdienstes, Markus Reisner. „Nach dem Rückzug aus Cherson haben sich die russischen Streitkräfte scheinbar genügend Luft verschafft, um neue Drohkulissen aufzubauen, haben die Möglichkeit, Angriffe auf strategischer Ebene durchzuführen“, sagt der neue Gardekommandant.
Gebundene Kräfte
Ob nach dem Treffen Putin-Lukaschenko eine neue Offensive von Weißrussland aus auf Kiew oder den Westen der Ukraine möglich sei? „Dafür liegt noch zu wenig auf dem Tisch. Sollten sich dort Truppen in bedrohlichem Ausmaß sammeln, bekommen wir das durch Satellitenbilder mit. Allerdings bindet diese Drohkulisse nach wie vor ukrainische Kräfte, die dringend im Osten gebraucht werden“, sagt Reisner. Etwa 40.000 ukrainische Soldaten – zu einem großen Teil territoriale Verteidigungskräfte – dürften derzeit im Norden des Landes stationiert sein, die Grenze weiterhin befestigen, während an der Front im Osten heftige Kämpfe toben.
Das Szenario eines weiteren Angriffs aus Belarus schwebt seit Beginn des Krieges wie ein Damoklesschwert über Kiew und Lemberg – ein Vorstoß in den Nordwesten könnte etwa die westlichen Waffenlieferungen an die Front unterbinden. Gleichzeitig dürfte Russland seine Arsenale nicht nur mit iranischen Kamikazedrohnen, sondern auch mit ballistischen Raketen aus der Islamischen Republik aufgefüllt haben.
„Mittlerweile schlagen Offizielle von ukrainischer Seite andere Töne an. Die Botschaft ist mittlerweile: ,Wenn ihr (der Westen, Anm.) uns nicht helft, wird sich ein Sieg gegen Russland nicht ausgehen’. Meiner Meinung nach eine realistische Einschätzung“, sagt Reisner. Die beste Werbung für weitere Waffenlieferungen seien weitere Erfolge an der Front – doch diese gibt es seit der Rückeroberung von Cherson nicht mehr.
Reisner: „Dazu kommt, dass sich die Russen sowohl aus Kiew, dem Raum Charkiw und aus Cherson ohne große Verluste zurückgezogen haben. Das waren de facto Punktsiege, aber kein K.O.“ Eine neue Offensive würde etwa auf die Stadt Melitopol einen Sinn ergeben. Würden die Ukrainer diese 80 km südlich der Front gelegene Stadt befreien, wäre der Nachschub der russischen Streitkräfte in den Oblasten Cherson, Saporischja sowie der Krim nur noch über die Brücke von Kertsch möglich.
Doch die russischen Einheiten haben ebenso das Gelände vor Melitopol massiv befestigt. Eine erfolgreiche Offensive wäre wohl nur unter heftigen Verlusten möglich. Reisner bringt es auf den Punkt: „Die Ukrainer sind zum Erfolg verdammt.“
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