"Vernimm, oh Herr, mein lautes Flehen": Andere Weihnachten in Jerusalem
Grau, trist, leer – in diesem Jahr strahlt Jerusalems Altstadt nicht das im Dezember übliche weihnachtliche Flair aus. Nur vereinzelte Kioske sind am Jaffa-Tor geöffnet. Vor den Cafés sind die Rollläden heruntergezogen. Wo sich sonst Touristen drängen und pausenlos das nervige "Jingle Bells" dudelt, stört nur ein lautstarker Streit gelangweilter Taxifahrer die Stille. Sie streiten nicht um Fahrgäste. Die sind weit und breit nicht zu sehen.
Es herrscht eine Stille, die weder heilig noch friedlich ist. Sogar in Kriegszeiten zieht Jerusalem noch Restbestände an Pilgern aus aller Welt an. Heute aber heißt der Feind Corona, vor dem auch die hohen Stadtmauern nicht schützen. Nur eine einzige kleine Reisegruppe aus Tel Aviv ist zu sehen. Wie viele Israelis fahren sie in ihren Hanukkah-Ferien gerne in die Heilige Stadt. „Vor Weihnachten ist das für uns immer so was wie weite Welt schnuppern“, erzählt Malka, deren Alter hinter dem Mundschutz schwer abschätzbar ist.
Klagen und Fluchen
2020 ist Jerusalem aber nicht der Nabel der Welt, sondern wie alle Welt. Eng und nicht weit. Das Virus unterscheidet nicht zwischen Juden und Arabern. Über 1.400 Infektionen sind in der engen Altstadt bestätigt, weiß Fuad Abu Chamed. Es dürften noch weit mehr sein. Als Corona-Beauftragter für die Altstadt muss Fuad es wissen: „Die Leute halten sich einfach nicht an die Schutzauflagen. Das ist unser Problem.“ Frustriert weist er auf ein Plakat vor den Stufen, die in den Basar hinabführen. Auf Arabisch zeigt es das richtige Aufsetzen der Maske und die Mindestdistanz in Armlängen. Keiner schaut hin. In Jerusalem ist der Glauben an Corona schwach und macht nicht selig. Wunder, beobachtete einmal Kurt Tucholsky in Lourdes, gibt es nur für Pilger. Nicht für Einwohner.
Ohne Mundschutz sitzt Barakat im Eingang zum Antiquitätenladen an der Ecke. Er ist älter als die meisten seiner Altertümer: „Zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf. Da sitz ich doch lieber hier, auch wenn ich schon drei Tage nichts verkauft habe.“ Händler klagen, wenn es ihnen gut geht. Läuft es schlecht, fluchen sie.
Vor der Klagemauer ist mehr los. Weniger als sonst, aber doch: Klagegebet ist in diesen Zeiten angesagt. Die Betenden stehen in „Kapseln“, Dutzende Zeltschirme, unter denen jeweils die zugelassene Höchstzahl an Betern Platz hat. Mundschutz, Mindestabstand – die Kontrollen sind streng. Nur eine Schulklasse am Rande hält sich nicht daran, dafür singt sie besonders laut. Psalm 140: „Vernimm, oh Herr, mein lautes Flehen.“
Keine Hundert Meter weiter verändert sich das Bild. Im muslimischen Viertel sind wieder mehr Geschäfte geöffnet, wenn auch bei Weitem nicht alle. Schutzmasken werden seltener, die Mindestdistanz kürzer. Kurz vor dem Mittagsgebet muss der Polizist den Eingang zur Al-Aksa-Moschee sperren. Kein Zutritt für Nichtmuslime.
Christliche Altstadt leer
Je christlicher die Altstadt, desto leerer wird sie. Auf dem Vorplatz zur Grabeskirche stehen wieder allein die Tel Aviver Weltschnupperer. Im Inneren der Kirche flüstert der Guide seine Erklärungen, dabei würde er auch mit Megafon niemanden stören. Allenfalls den armenischen Küster, der neben seinem Kerzenstand eingenickt ist. Ein Polizeigitter versperrt den Eingang zur Grabeskapelle. Für Besucher ist sie zu eng, keine Mindestdistanz von anderthalb Armlängen. Vor diesem Grab stand Ende Jänner Israels erster bestätigter Corona-Fall. In einer koreanischen Pilgergruppe.
Herberge ohne Gäste
„Geschlossen“, rufen die Händler, als ich am Österreichischen Hospiz in der Via Dolorosa klingele, „aber Kaffee haben wir auch.“
Leicht enttäuscht schauen sie zu, wie sich die schwere Holztüre doch öffnet. Tobias Wirth schwingt sie auf. Mit 25 Jahren zählt er zu keiner Corona-Risikogruppe. Zusammen mit vier anderen Mitarbeitern hält er die Stellung in der Herberge ohne Gäste. Wo sonst Kaffeeduft schwebt, riecht es nach frischer Farbe. „Die leere Zeit muss für Reparaturen und kleinere Erneuerungen genutzt werden.“ Vergangenes Jahr beendete Wirth eigentlich seinen Zivildienst im Hospiz, doch entschloss er sich zu verlängern. Von Corona war da noch nicht die Rede, und ohne das Virus wäre seine Arbeit im Hospiz sicher erfüllter.
„Aber zu Hause ist das Leben derzeit auch isoliert und alles andere als normal. Da kann ich auch hierbleiben.“ Die Wünsche werden mit Corona bescheidener. Auch vor Weihnachten. Wirth freut sich auf die heimische Kost, die zum Fest auf den Tisch kommen soll.
Rektor Markus Bugnyar ist derzeit in Wien und nur telefonisch zu erreichen. Fast ein Jahr schon überschattet die Corona-Krise seine Arbeit, und ihre Langzeitfolgen sind nicht abzuschätzen. „Ich muss sagen, dass unser Freundeskreis treu geholfen hat. Spenden kamen großzügig. Doch allen ist klar, als Dauerzustand ist das unmöglich.“ Mit Andauern der Krise werden die Spenden zwangsläufig geringer, ihre Notwendigkeit aber dringlicher. Nicht nur für das Hospiz.
Sanierung bleibt Traum
Bugnyar hofft auf Änderung zum Guten durch die Impfungen, bleibt aber skeptisch. Das Hospiz gehört zur Reisebranche, die die stärksten Verluste einstecken musste. „Dabei liefen immer wieder Bestellungen ein, etwa nach dem ersten Lockdown, aber immer wieder mussten wir stornieren.“ Vor nächstem Sommer rechnet er nicht mit einer grundlegend veränderten Situation. Der Traum von der Grundsanierung des Hospizes bleibt erst einmal einer.
Als Reisender zwischen den Welten ist dem 45-Jährigen der direkte Corona-Vergleich möglich. Unterscheidet sich der Kampf gegen das Virus in Österreich von dem in Israel? „Die Israelis, Staat wie Bürger, sind erfahrener im Umgang mit Ausnahmesituationen. So kann sich Kritik an Vorschriften in Israel zwar lautstärker äußern, doch verbleibt so etwas wie eine Grundsolidarität. Und die Einsicht, dass da Experten am Werke sind, die nicht nur Fehler machen“, sagt Bugnyar. Ihre Erfahrung mit Terror und Krieg mache Israelis auch weniger anfällig für Verschwörungstheorien.
Weihnachten will er „zu Hause“ feiern. Dem Auslandsösterreicher des Jahres 2019, derzeit in Wien, ist nicht sofort klar, dass diese Antwort missverständlich ist. Dann wird der Geistliche genauer: „Zuhause in Jerusalem.“
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