Die 10er Jahre: Ach, wie schön ist das Umbruchsknirschen in der Kultur
Georg Leyrer
29.12.19, 05:01Was für ein absoluter Triumph für die Kultur: So gut wie jeder hat am Ende der 10er Jahre alle Musik, mehr Filme, als man jemals schauen kann, die Klassiker der Literatur und das wertvollste Wissen in der Hosentasche.
Was für eine absolute Niederlage für die Kultur: Im Schreiduell um die smart gewordene Aufmerksamkeit geht all das unter.
Das Smartphone ist eine fantastische Kulturmaschine geworden. Seine Mechanismen aber haben die Kultur verändert, und das wird in den 20ern noch stärker durchschlagen: Es ist in den 10er Jahren der aufklärerische Traum der „Kultur für alle“ wahrgeworden; und er hat sich zugleich in Likes aufgelöst. Kulturelles Schaffen kollabiert in Einzelbilder – Memes, Aufreger. Wer diese nicht liefert, spielt in der Hauptkonsumform unserer Zeit keine Rolle. Das ist dann doch ein gröberes Problem, insbesondere für die klassischen Kulturformen, die noch zu keinerlei Online-Sprache gefunden haben.
An der Kultur lassen sich aber auch wunderbar die neu erblühten Vorurteile widerlegen: Mit einer angeblich verkürzten Aufmerksamkeitsspanne hat der Umbruch nichts zu tun, im Gegenteil. Alle Kultur, die sich in den 10er Jahren behauptet hat, tat dies über Länge, über Umfang: Computergames mit dutzenden Stunden Spielzeit, TV-Serien, Filmserien-Wahnsinnsunternehmen wie die 20 Filme der Marvel-Reihe.
Museen boomen.
Und ja, die Menschen lesen noch. Vielleicht insgesamt so viel, wie nie zuvor.
Ein Glück: Das lächerliche Dogma der Gratiskultur wurde in den 10er Jahren überwunden. Die Menschen zahlen wieder für Kultur und auch für Medien. Und zwar ganz schön viel Geld.
Sie geben es aber anders aus: Als Streaming-Abo für Musik und TV, und für Live-Konzerte. Das geht einher mit lautem Umstrukturierungsknirschen: Das Kino ist in die Defensive gerutscht.
Musiker kriegen Centbeträge, wo es einst Euros gab.
Und das Fernsehen hat sich imagemäßig aufgeteilt, in Eltern-Fernsehen und neues Fernsehen. Bye, bye, Samstagabendshow.
Es gilt das für die Medien, was für die Kultur gilt: Bezüglich der Diskrepanz zwischen dem, was Aufmerksamkeit verdient, und dem, was Aufmerksamkeit bekommt, sind wir zu Beginn der 20er Jahre noch am Anfang der Lernkurve. Im Lokal- und im Kulturjournalismus gab es weltweit ein Blutbad, ein Jammer. Nach einem Boom des Hysterie- und des Aufzählungsjournalismus („Die 10 Dinge, die uns an den 10er Jahren besonders gestört haben“) sind die Fronten wieder klassisch zwischen kleinem Qualitäts- und großem Boulevardsegment verhärtet.
Die prägendste Gruppe der 10er Jahre aber erreichen beide nicht: Jene Abgebogenen, die das Internet nach alternativen „Wahrheiten“, über Flüchtlinge, über das Impfen, über die Politik durchforsten – und sich dort in Selbstradikalisierung verfangen. Fake News – dieser vergiftete Begriff wird bleiben, befeuert von den Populisten am rechten Rand.
Auch in der Kultur sind giftige Fans zum Problem geworden: Man geht bis an die Zähne meinungsbewaffnet an Kultur heran. Die Branche wiederum hat einen Läuterungsprozess erlebt: Aus der Kultur kam die #MeToo-Bewegung, die zum weltweiten Phänomen wurde. Um die ist es Anfang der 20er nun bedauerlich still geworden.
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