"Russische Invasion": Warum immer mehr Russen Zuflucht in Serbien suchen
Eigentlich wollte er nach Wien. Geworden ist es am Ende eine andere europäische Hauptstadt, die an der Donau liegt - Belgrad. Wenige Tage nachdem Wladimir Putin seine Streitkräfte ins benachbarte Land einmarschieren gelassen hatte, machte sich Sergej auf den 1.800-Kilometer langen Weg von Sankt Petersburg nach Belgrad.
"Ich wurde gefeuert, weil ich mich gegenüber Kollegen kritisch über den Krieg geäußert hatte", erzählt der junge Mann, dessen Name aus Sicherheitsgründen von der Redaktion geändert wurde, der Frankfurter Rundschau. In Russland habe der Cellist professionell in einem Orchester gespielt. Den Gedanken, sein Heimatland zu verlassen, habe der Sohn einer aus dem ukrainischen Lemberg stammenden Russin schon länger gehegt. "Wir wollten eigentlich schon nach der Annexion der Krim vor acht Jahren aus Russland emigrieren. Der Ukraine-Krieg war der letzte Tropfen, der für uns das Fass zum Überlaufen brachte".
Aber warum Belgrad und nicht Wien?
Die serbische Metropole kenne er seit einem Orchester-Gastspiel, begründet der Musiker seine Entscheidung. Zudem würden er und seine Landsleute in dem größten Nachfolgestaat Jugoslawiens kein Visum für die Einreise nötig haben. Obendrauf fliegt die staatliche Fluggesellschaft Air Serbia immer noch Moskau und eben Sankt Petersburg an.
In diesen Zeiten ist das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Der EU-Beitrittskandidat versucht bekanntlich einen Spagat zwischen dem Westen und dem befreundeten Russland zu schaffen und trägt deshalb auch keine EU-Sanktionen gegen das Land, das bei fast allen in Ungnade gefallen ist.
"Okkupieren die Russen Belgrad und Novi Sad?"
Sergej ist einer von 20.000 bis 30.000 Russen - so lauten zumindest Medienschätzungen -, die seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine in Serbien Zuflucht gefunden haben. Laut der Frankfurter Rundschau seien die meisten von ihnen Gegner der Politik Putins - und oft hoch qualifiziert. Zuletzt hatte das Portal N1 berichtet, dass seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine in Serbien 288 Unternehmen gegründet worden seien. Die meisten davon seien in der IT-Branche angesiedelt. Man erwarte, dass weitere Unternehmen dazukommen werden.
"Viele Russen eröffnen nun ein Konto bei uns", verriet eine Angestellte einer Raiffeisenbank-Filiale im Zentrum Belgrads, in dem Russisch immer mehr zu hören sei, dem deutschen Blatt. Neben Istanbul, dem armenischen Eriwan und dem georgischen Tiflis würde Belgrad mittlerweile zu den Top-Adressen der russischen Einwanderer zählen.
Doch, auch wenn die Serben den Russen gegenüber traditionell positiv gestimmt sind, seien bereits auch weniger freundliche Stimmen zu vernehmen. Die Einheimischen zeigen sich besorgt darüber, welche Auswirkungen die "russische Invasion in Serbien" haben könnte.
Angst haben die ohnehin finanziell klammen Serben vor einem zusätzlichen Anstieg der Immobilienpreise. "Okkupieren die Russen Belgrad und Novi Sad? Sie kaufen Wohnungen und Wochenendhäuser und scheren sich nicht um den Preis", bringt etwa das Tabloid Blic die Sorgen der serbischen Bevölkerung zum Ausdruck.
Omnipräsenter Putin
Ein anderes Problem haben hingegen die Neuankömmlinge. In Belgrad sehen sie den Mann, vor dem sie geflüchtet sind, öfter als ihnen das lieb ist. Sergej sei "schockiert" darüber, dass an an Souvenirständen im ganzen Belgrad Leiberl mit Putins Antlitz zu finden sind. Auch Putin-Graffitis findet man in der Stadt. "Viele Leute hier haben wegen der Nato-Bombardierung im Kosovo-Krieg eine vereinfachte und absurde Sicht des Ukraine-Kriegs. Für sie ist der Feind des Feindes ein Freund. Sie unterstützen Putin als Gegner der Nato und seinen Krieg in der Ukraine als eine Art Konterattacke gegen die Nato", sagt Sergej zur Frankfurter Rundschau.
Dennoch sei er erleichtert, dass er in Serbien "offen über den Krieg sprechen und dagegen demonstrieren". Daheim war dies nicht der Fall: "In Sankt Petersburg wurden unsere Friedensdemonstrationen schon nach 15 Minuten von der Polizei brutal auseinander geprügelt und die Leute verhaftet".
Russische Propaganda
Nun geht Sergej ausgerechnet in Serbiens russophiler Hauptstadt gegen den Krieg auf die Straße. Bei den spärlich besetzten Antikriegsprotesten marschiert er ausgerechnet mit weiteren Russen. So etwa mit Saša Seregina, der Mitbegründerin der Gruppe "Russen, Ukrainer, Weißrussen und Serben gemeinsam gegen den Krieg". Die aus Samara stammende Architektin lebt seit zwölf Jahren in Belgrad und schätzt die russische Propaganda in Serbien als "sehr stark - und dominant" ein.
"Die Leute hier können darum leider nicht sehen, was derzeit in der Ukraine und Russland eigentlich passiert. Es geht nicht um einen Krieg zwischen zwei Staaten. Die Ukraine kämpft für die Freiheit von ganz Europa", sagt Seregina gegenüber der deutschen Zeitung. Obwohl sie sich mittlerweile in Serbien heimisch fühlt, kann sie vor allem eine Tatsache nicht verdauen: "Ehrlich gesagt war ich mir nicht bewusst, wie groß und wie tief verwurzelt die Zustimmung zu Putins Politik ist".
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