Matavenero: "Nicht jeder schafft es, so zu leben"

Matavenero: "Nicht jeder schafft es, so zu leben"
Im kleinen nordspanischen Dorf Matavenero leben die rund 60 Einwohner im Einklang mit der Natur und verzichten auf Luxus, wie wir ihn kennen. Die Niederösterreicherin Anna hat sich vor neunzehn Jahren aus dem engen Korsett der Zivilisation befreit.

Anna beschließt, dieses Leben endgültig hinter sich zu lassen. Ihr Studium hat sie schon vor Jahren abgebrochen, ein Praktikumsangebot, das sie ihrem Traum, Journalistin zu werden, näher gebracht hätte, abgelehnt. Sie reiste nach Spanien und Portugal, lernte viele neue Freunde kennen, arbeitete mal hier und mal da. Doch einen Plan hatte sie nie. Am Ende kehrte sie immer wieder zurück. Dieses Mal soll es anders sein. Die Niederösterreicherin wird sich nicht mehr umdrehen.

Anna wird ein paar Sachen zusammenpacken, ihre sechsjährige Tochter bei der Hand nehmen und sich bei ihrer Familie verabschieden. Die beiden werden in ein Flugzeug Richtung Madrid steigen, danach in einen Bus Richtung Bembibre. Die Fahrt wird fünf Stunden dauern, der Marsch in die Berge weitere drei. Am Ende werden sie ihr Ziel erreichen. Matavenero, ihre neue Heimat.

Matavenero: "Nicht jeder schafft es, so zu leben"

Neunzehn Jahre sind seither vergangen. Anna, eine zierliche Person mit grau meliertem Haar und braunen Augen, hat Matavenero bis auf ein paar Mal nicht mehr verlassen. Hier hat sie sich verliebt, hier hat sie Laura und ihre zweite Tochter Miranda großgezogen. "Es war die richtige Entscheidung, hierher zu kommen", sagt die heute 56-Jährige. "Es gibt noch einiges, was wir besser machen können. Aber wir sind noch jung und verändern uns ständig."

Die Suche nach dem schwarzen Gold

Mit "wir" meint Anna Matavenero, das kleine Öko- und Aussteigerdorf, gelegen auf etwa tausend Meter Höhe in der nordspanischen Gebirgskette Sierra de Ancares in der Provinz Kastilien-León. Nur über einen schmalen Pfad zwischen Bäumen, Wiesen und Felswänden gelangt man dorthin. All das, was für viele selbstverständlich geworden ist, existiert hier nicht. Keine Straßen, keine Beleuchtung, kein Handy-Empfang, keine Hektik. Hier regiert die Ruhe, die harte Arbeit, die Natur.

Obwohl das Bergdorf in der jetzigen Form erst seit etwa 30 Jahren besteht, reicht die Geschichte bis in die Vierzigerjahre zurück. Damals erlebte Spanien einen wirtschaftlichen Aufschwung durch reiche Kohlevorkommen im Norden. Ein Glücksfall für die Bevölkerung, die unter dem Franco-Regime litt und international fast vollkommen isoliert war. Kohle galt damals als wichtigster Energielieferant, zahlreiche Arbeitsplätze wurden geschaffen. Einen Binnenmigration war die Folge. Menschen aus ganz Spanien brachen in die autonomen Regionen Kastilien-León oder Asturias auf, um unter der Erde für gutes Geld zu schuften.

Matavenero: "Nicht jeder schafft es, so zu leben"

Einige besiedelten das wichtige Minengebiet in El Bierzo, wo auch das heutige Matavenero liegt. Erste Holzhütten wurden gebaut, zwischen den Bäumen entstanden Pfade, die in die umliegenden Stollen führten. Doch schon nach wenigen Jahren kollabierte das Geschäft mit dem schwarzen Gold, das einst die industrielle Expansion angetrieben und Städte zum Wachsen gebracht hat. Nicht, weil sich Menschen um die Umwelt Sorgen machten. Kohle wurde noch immer verwendet. Es war aber billiger, sie zu importieren, als in den eigenen Minen abzubauen. Ende der Sechzigerjahre verließ der letzte Kumpel Matavenero.

Es sollte zwanzig Jahre dauern, bis der verwaiste Ort wieder zum Leben erwacht.

Hippies revitalisieren das Dorf

Allerdings ganz anders als zuvor. Das Dorf entstammt aus dem Geist der "Rainbow-Bewegung". Hippies aus Deutschland und der Schweiz siedelten sich 1989 im Bergdorf an, um in Harmonie und Einklang mit der Natur zu leben. Über die Jahre hinweg flickten sie die Hütten der Bergarbeiter mit Holz und Wellblech zu Behausungen zusammen, legten Wasserleitungen an und bauten Komposttoiletten. Nach und nach schlugen mehr Menschen ihre Zelte in Matavenero, sogenannte Tipis.

Matavenero: "Nicht jeder schafft es, so zu leben"

Heute besteht das Dorf aus größeren und kleineren Häusern aus Holz, Stein und Blech. Im Ortskern befindet sich eine Bar samt Wuzzler; dahinter eine Bibliothek, in der Bücher bis zur Decke gestapelt sind; in einem anderen Haus werden Kinder freiwillig und alternativ unterrichtet, bis sie zwölf Jahre alt sind, dann gibt es entweder Privatunterricht oder sie besuchen eine Schule in der nächsten Stadt; wenn Gäste kommen, können sie in der Cocina Común (Gemeinschaftsküche) übernachten, ein verwinkelter Raum mit Stockbetten und Herd. Abseits des Zentrums, hinter den Kastanienbäumen steht auf der einzigen Ebene des Ortes der "gelbe Dom", das Rathaus, wo getanzt und geredet wird.

Der Großteil der rund 60 Einwohner kommt aus Spanien und Deutschland. Uli zum Beispiel ist aus Offenburg, Baden-Württemberg. Eigentlich heißt Uli Ulrike, hier nennt man sie aber "La Uli". Mit 26 Jahren Dorfzeit gehört sie zu jenen, die schon am längsten in Matavenero wohnen. Freunde haben ihr vom Dorf erzählt, dass Menschen eine Öko-Gemeinschaft aufbauen wollen, dass sie abseits der hektischen Welt leben wollen. "Ich war sofort begeistert", erzählt Uli, die zum ersten Mal 1989 zu Besuch war und zwei Jahre später in das Bergdorf zog. Ihre Mutter, die heute 82 Jahre alt ist, war von der Idee nicht angetan. "Ist auch klar. Da geht die Tochter einfach in ein Dorf in den Bergen, das nicht erreichbar ist und niemand kennt. Aber sie hat es akzeptiert."

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Vermisst sie etwas? Ihre alte Heimat Deutschland vielleicht? Uli sitzt auf der Eckbank in ihrer Küche und zögert einen Moment. "Eigentlich nicht", platzt es aus ihr heraus, "Deutschland ist zwar schön, besonders der Schwarzwald mit seinen Flüssen. Aber die Idee, mit der Natur zu leben und dem Notwendigsten auszukommen auch." Geheizt wird mit Holz, gegessen, was angebaut wird. In der Früh läutet kein Wecker, es kräht der Hahn. Wenn etwas geschleppt werden muss, hilft nicht der Gabelstapler, sondern der Esel. "Weil das Leben natürlicher ist, ist es auch schwieriger. Schnell mal in den Supermarkt… das geht nicht", sagt Uli, "man muss sich dafür schon einen Tag Zeit nehmen. Nicht jeder schafft es, so zu leben."

Zum Zusammenleben im Dorf gehört auch, immer alles im Konsens zu entscheiden, keinen Arzt in der Nähe zu haben oder Wasser aus dem Gebirgsbach zu schöpfen. Der spanische Staat hält sich aus allem raus. Er schickt keine Müllabfuhr und niemanden, der Straßenlaternen montiert. Einerseits bedeutet das mehr Freiheit, andererseits, dass man auf sich alleine gestellt ist – sowohl im Sommer, wenn der Bach austrocknet, als auch im Winter, wenn er zufriert.

Der Kontakt zur Außenwelt

Auf den ersten Blick scheint das idyllische Bergdorf also so gar nicht in das 21. Jahrhundert zu passen. Hier, wo das Leben spartanisch ist, und draußen, wo man seine Wünsche mit nur einem Klick erfüllen kann. Doch wer tiefer in das Dorfleben eintaucht, wird entdecken, dass die Digitalisierung selbst vor den nordspanischen Bergen nicht Halt macht. Sie schreitet nur etwas langsamer voran.

Matavenero: "Nicht jeder schafft es, so zu leben"

Aus Ulis Hosentasche beispielsweise blitzt ein Mp3-Player hervor. Technisch gehört er zur älteren Generation, funktioniert aber noch einwandfrei. In manchen Häusern gibt es Strom. Er wird nicht aus dem Netz bezogen, sondern von Solarzellen, die auf den Dächern montiert sind. Seit wenigen Jahren hat das Dorf auch Zugang zum Internet. Es erlaubt den Bewohnern, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, aber auch gefunden zu werden. Dadurch steigt das öffentliche Interesse an Matavenero. "Sehr viele Menschen wollen uns besuchen, zum Beispiel Journalisten", erklärt Anna und lächelt. "Im Dorf debattieren wir darüber, ob wir das überhaupt wollen. Viele möchten lieber ihre Ruhe haben."

Die Niederösterreicherin, die in einem kleinen Haus außerhalb des Dorfzentrums wohnt, sucht hingegen den Kontakt "nach draußen". Einmal pro Woche marschiert sie zwei bis drei Stunden bergab nach San Facundo und fährt mit dem Bus nach Bembibre. Dann geht sie entweder schwimmen, trinkt einen Kaffee in einer Bar oder ruft Bekannte an – aus der Telefonzelle. Anna hat im Gegensatz zu ihren Töchtern kein Smartphone, zum Internet findet sie keinen Draht. Täglich schreibt sie Briefe an Verwandte und Freunde, die aber schon "bestens informiert sind, weil meine Töchter auf Facebook sind, wie die meisten Jugendlichen im Dorf", sagt Anna und zeigt auf ein paar Burschen, die auf dem Fußballplatz stehen und auf das Display eines Smartphones schauen. Viele, die hier aufgewachsenen sind, erklärt die Österreicherin, verlassen das Dorf, weil sie etwas anderes sehen möchten. "Entweder kommen sie nach einiger Zeit zurück, oder eben nicht."

Matavenero: "Nicht jeder schafft es, so zu leben"

Die Burschen heben kurz ihre Köpfe, nicken zustimmend und schauen wieder aufs Display. Benjamin (Name geändert, Anm.) ist hier aufgewachsen, lebt aber nun in Deutschland bei seinem Vater. "In Deutschland bin ich aktiver im Internet. In Matavenero lasse ich es sein. Das ist mein Rückzugsort", deponiert der Jugendliche. Dass im Ort die Zeit stehen geblieben ist, wie viele Besucher vermuten, sei nicht der Fall. "Das Internet spielt keine große Rolle, aber wir haben Smartphones, auch die Erwachsenen", tönt es aus der Menschentraube. "In einigen Häusern gibt es auch Fernsehapparate", ruft jemand dazwischen. "Wir haben eine PlayStation", ein andere. "Vielleicht habe ich vorher fünf Stunden gezockt bevor du gekommen bist."

Die Jungs lachen, das Smartphone, das nun mutterseelenallein in der Wiese liegt, ignorieren sie.

Der italienische Kritiker

Das Hippie-Dorf verändert sich und nicht alle sehen die Entwicklung positiv. Am Busbahnhof in Bembibre sitzt Claudio, ein 61-jähriger Italiener, der Anfang der Neunzigerjahre für einige Wochen im Dorf strandete. "Damals war es wunderschön, eine richtige Kommune", erzählt er, formt mit Daumen und Zeigefinger einen Ring und spreizt die restlichen Finger weg: "Perfetto!" Heute sei das Dorf eine "Katastrophe", wie er klagt. Der in Regebogenfarben gekleidete Claudio vermisst die "originalen Hippies", die "Rainbow-Warrior". Die Idee von "Matavenero" sei einem "Dorf für Möchtegern-Hippies" gewichen.

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Anna, die vor der Dorfbar sitzt und ihren Kaffee trinkt, kennt diese und andere Vorwürfe. Beirren lässt sie sich davon nicht. "Wir sind kein gewöhnliches Dorf, wo man sich ab und zu sieht. Wir leben miteinander und aufeinander. Wenn das nicht funktioniert, dann spürt man das intensiver als in der anonymen Stadt", sagt sie. Den Freundeskreis könne man nicht einfach austauschen. Probleme gelöst werden, eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

Die Österreicherin wird bald Matavenero verlassen, um in ihrer alten Heimat ihren 91-jährigen Vater zu besuchen. Für ein paar Stunden will sie auch nach Wien fahren. "Vor 19 Jahren habe ich mich für Matavenero entschieden, darüber bin ich glücklich. Aber auf ein Wiener Kaffeehaus und ein Kipferl freue ich mich auch."


Hinweis: Diese Reportage ist im Rahmen von Eurotours 2017 entstanden, ein Projekt des Bundespressedienstes. Wenn Sie Fragen und Anregungen haben, kontaktieren Sie mich via e-Mail juergen.klatzer@kurier.at.

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Matavenero ist ein kleines Aussteiger- und Ökodorf in den nordspanischen Bergen. Rund 60 Einwohner hat das Dorf aktuell. Sie wollen im Einklang mit der Natur leben.
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Matavero ist gerade mal 30 Jahre alt. 1989 besiedelte deutsche und Schweizer Hippies, die von der Rainbow-Bewegung inspiriert waren, besiedelt. Aus Tipis wurden Hütte, aus Hütten Häuser.
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Die Geschichte des Dorfes liegt aber weiter zurück. In den Vierziger- und Fünfzigerjahren erlebte Spanien einen wirtschaftlichen Aufschwung durch reiche Kohlevorkommen im Norden. Die Minenarbeiter siedelten sich in den umliegenden Gebieten an.
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Matavenero liegt auf etwa tausend Meter Höhe in der wichtigen Minengebiet El Bierzo. Die Kumpel errichteten die ersten Holzhütten und Pfade. Nachdem die Industrie kollabierte, verließen die Arbeiter in Ende der Sechzigerjahre das Dorf.
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Es dauerte zwanzig Jahre, bis der verwiste Ort wiederbelebt wurde. Die Hütten wurde zusammengeflickt, Wasserleitungen gelegt. Viele der "Pioniere" leben heute nicht mehr hier.
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"La Uli", die Deutsche, war zum ersten Mal 1989 in Matavenero und zog zwei Jahre später in das Dorf. Zuerst wohnte sie in einer kleinen Hütte, dann in diesem Haus, das sie mithilfe von Freunden gebaut hat.
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Ihre alte Hütte ist schon zerfallen, sagt sie. "Langsam muss ich es abbauen. Das gehört zum Dorfleben dazu." Uli lebt mit ihrem Partner Karl in Matavenero, ihr Tochter hat nicht weit entfernt ein Haus.
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Die deutsche Mittfünfzigerin erklärt, dass das Leben im Dorf natürlicher und deshalb auch anstrengender ist. Technische Hilfsmittel gibt es kaum, dafür drei Esel.
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Auch die Niederösterreicherin Anna lebt in Matavenero - seit neunzehn Jahren. Hier hat sie sich verliebt, hier sind ihre Töcher aufgewachsen. Alle zwei Jahre kommt sie nach Österreich und besucht ihren Vater, der heute 91 Jahre alt ist.
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Einige Bewohner arbeiten außerhalb des Dorfes, nur wenige haben aber eine Fixanstellung. Anna hilft gelegentlich in der Dorfbar aus.
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Die Jugendlichen im Dorf leben nicht abgeschottet. "Viele von ihnen wollen auch Neues sehen, nicht nur das Dorf", erklärt Anna. Einige von ihnen besitzen Smartphones - auch wenn der Empfang im Ort nicht besonders gut ist.
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Man muss schon auf den Gipfel steigen, um telefonieren zu können.
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Touristen sind in Matavenero willkommen. Asphaltstraße gibt es aber keine. Ein Pfad führt in das Dorf - das dauert etwa zwei bis drei Stunden.
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Entweder schläft man in der Cocina Común, eine Gemeinschaftsküche, oder schlägt sein Zelt auf den einzigen Platz auf, der eben ist - wie hier.

Hinweis: Das Video stammt aus dem Jahr 2002.

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