Haben wir Maß und Ziel verloren? Die neue Vermessung der Welt

Haben wir Maß und Ziel verloren? Die neue Vermessung der Welt
Kilogramm, Temperatur, Stromstärke – all das wird neu definiert. Braucht auch unser Leben neue Maßstäbe?

In Versailles wurde neu definiert, wie wir die Welt vermessen: Kilogramm, Stromstärke, Temperatur, all das wurde an Naturkonstanten gebunden. Nun sind alle grundlegenden Maßeinheiten - auch Meter und Sekunde - fixiert.

Wir haben diese Idee auf unser Leben übertragen: Braucht es nicht auch längst für Politik, Wirtschaft, Sport, Medien, Zusammenleben neue Maßstäbe? Der KURIER hat sich auf die Suche gemacht, was alles neu vermessen werden soll - und wie uns das Ergebnis hilft.

Gert Korentschnig über die Vermessung der Welt

Es ist, gerade in komplizierten Zeiten, lohnend, sich der Welt mit Kinderfragen zu nähern. Frei nach Herbert Grönemeyer also: Wann ist ein Meter ein Meter? Was also sind heute gültige 100 Zentimeter? Und was ein Kilo? (Nichts, sagen die Physiklehrer, es muss „Kilogramm“ heißen.)

Wie lang ist eine Sekunde?

Hier geht es nicht um philosophisches Sonntagszeittotschlagen für gelangweilte Wohlstandsbürger. Denn das zu beantworten, ist alles andere als leicht. Und es wird jetzt noch schwieriger. Denn ursprünglich wurden viele dieser Grundeinheiten des Lebens schlicht über Gegenstände definiert. Den Urmeter. Das Urkilo (okay, -gramm!).

Das war viele Jahrzehnte lang ausreichend. Aber entspricht weder der heutigen Messgenauigkeit noch einer echten Definition – noch einer nachhaltigen Lösung.

Sind Sie zuletzt auch schwerer geworden? Das liegt – unter anderem! – daran, dass das in Paris gelagerte Urkilogramm leichter wurde. Man vermutet: durchs Putzen.

Es wird kompliziert

Leider: Als Ausrede für den eigenen Gewichtszuwachs eignet sich das nur bedingt. Da geht es um einen derart minimalen Verlust, dass er eigentlich bedeutungslos ist.

Eigentlich.

Denn natürlich ist es ein Problem, wenn das, was ein Kilogramm ausmacht, immer leichter wird.

Also muss eine neue Definition her. Die wurde nun  in Versailles beschlossen. Dort tagte die Generalkonvention für Maß und Gewicht – und zwar, um letztlich alle grundlegendsten Maßeinheiten auf ganz neue, gemeinsame Beine zu stellen. Beziehungsweise: Auf Naturkonstanten, die nun ab Mai 2019 sieben wesentliche Maßeinheiten definieren. Hallo, Physiklehrer, was war gleich nochmal das Plancksche Wirkungsquantum? (Antwort auf Wikipedia)

Es wird komplizierter. Dafür wird etwa das Kilogramm so definiert, dass es auch Aliens am anderen Ende des Universums verstehen (ohne nach Paris fliegen zu müssen, um ein altes Gewicht abzuwiegen. Eigentlich schade). Lustigerweise gibt es jetzt gleich zwei Definitionen, die das selbe Ergebnis haben sollen. Das lernen dann unsere Kinder im Physikunterricht (und: -gramm!).

Ab 2019 gilt’s also: Es können zwar künftig weniger Menschen erklären (oder ganz genau verstehen), was ein Kilogramm ist. Aber dafür ist es für alle und für immer das selbe.

In einer derartigen Schlussdefinition liegt wunderbare Schönheit – vor allem, womit wir wieder am Anfang sind, in komplizierten Zeiten. Graduell ist uns auch im Leben zuletzt Maß und Ziel entschlüpft: Trotz der hier sofort aufleuchtenden Phrasenalarmwarnung gibt es kaum einen Satz, der die letzten Jahre besser zusammenfasst.

Es passen die eingelernten Maßsysteme weder auf das, was in der Politik (rechts? links?) passiert.

Noch auf die Wirtschaft (Definitionsvorschlag: ein Monat ist immer um den Zeitraum X länger, als der Lohn der Mittelschicht reicht).

Noch auf den Sport: Körperkraft ist längst nicht mehr alleiniges Kriterium.

Noch auf sonst sehr viel im Leben.

Es ist ganz einfach

Trotzdem schauen wir auf die Welt, als wäre es die von gestern, gehen mit festgeschraubten Erwartungshaltungen und vorgefassten, eingelernten Einordnungswerkzeugen an sie heran. Was Diskrepanzschmerzen verursacht: Die Welt will und will nicht in die Kastln passen, in die wir sie gerne legen würden.

Wer mit dem Hammer unterwegs ist, heißt es, sieht überall nur Nägel. Ist halt blöd in einer Welt, die längst aus Microchips gebaut ist.

Vielleicht ist auch das ein Mitgrund für den Grant, mit dem man einander zuletzt begegnete: Es scheint alles sehr kompliziert, dabei sind wir vielleicht nur – im wahrsten Sinne – vermessen. Haben wir etwa die Sozialen Medien wirklich gebraucht, um festzustellen, dass wir einander großflächig nicht ausstehen können?

Daher ist jetzt Zeit, nachzumessen. Also: Neue Maßstäbe braucht das Land. Die müssen für die Welt von heute passen. Wie sieht diese aus, wenn wir sie ganz neu vermessen? Und wie hilft uns das?

Naturkonstanten für das Zusammenleben, an die wir unsere Maße anpassen können, werden wir (sorry, liebe Soziologen) nicht finden. Aber neue Maßstäbe, neue Fragen – und neue Mittelpunkte. So, wie die EU nach dem Brexit. Die Mitte der EU ist nun näher bei uns.

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