Vom Parteienstaat zur Pop-up-Demokratie

Vom Parteienstaat zur Pop-up-Demokratie
Ideologie tritt bei der Wahlentscheidung in den Hintergrund, sagt Politikwissenschaftler Fritz Plasser.

0,6 Prozent. Plus 0,4 bei der SPÖ, minus 0,2 bei der ÖVP, die FPÖ gleichbleibend. Von Grünen, Liberalen oder Pop-up-Parteien weit und breit keine Spur.

Eine Verschiebung von 0,6 Prozent also. Das war alles, was sich bei der Nationalratswahl 1975 gegenüber 1971 änderte.

„Ich war bitter enttäuscht“, erinnert sich der Politikwissenschafter Fritz Plasser. „Ich kam damals aus den USA zurück und habe dort alles über party changers (Wechselwähler) und late deciders (Spätentschlossene) gelernt. Ich wollte das 1975 bei meiner ersten Wahlanalyse anwenden. Und dann kommt ein Ergebnis, bei dem sich nichts bewegt!“

Inzwischen sind 40 Jahre vergangen, und die Politikwissenschaft ist auf ihre Kosten gekommen. Die Parteienlandschaft ist auch hierzulande erodiert. Bei der Nationalratswahl 2017 verschoben sich an Plus und Minus bei den Parteien satte 31 Prozent.

Auflösung der Milieus

Nur ein Drittel der Österreicher stehen heute einer Partei „gefühlsmäßig nahe“. Zwei Drittel bezeichnen sich als ungebunden, rund 35 Prozent waren bei der Wahl 2017 Wechselwähler. Den Stammwählern gebührt fast schon Denkmalschutz, sie stellen nur noch rund 30 Prozent der Wählerschaft.

Hinter der nackten Statistik verbirgt sich ein enormer gesellschaftlicher Wandel, die Auflösung der traditionellen Milieus, die die ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik prägten. In den 1970ern war jeder vierte Österreicher Parteimitglied, heute ist es jeder Zehnte. SPÖ und ÖVP teilten sich das Land, sie besaßen die Verfassungsmehrheit, beherrschten die Sozialpartner, stellten Richter, Lehrer und Direktoren aller Art. Auch ein guter Teil der Wirtschaft war „rot“ oder „schwarz“ zugerechnet.

Die Milieus der Sozialdemokratie und der Christlich-Sozialen berührten das ganze Dasein: Die Wohnung bei der Genossenschaft, das Konto bei der Bank, der Autofahrerclub, der Wanderverein, oft auch der Arbeitsplatz. Sogar das Feiertagsverhalten war weltanschaulich indiziert: Die einen rückten zur 1. Mai-Kundgebung aus, die anderen zur Fronleichnamsprozession. In den 1970er-Jahren gingen noch zwei Drittel der ÖVP-Wähler jeden Sonntag in die Kirche, heute nur ein Viertel.

Für SPÖ und ÖVP war das Leben damals bequem. Bei Wahlen konnten sie auf treue Stammwähler bauen, sie mussten sie nur mobilisieren.

Heute müssen die Parteien ihre Wähler stets von Neuem erobern, automatisch geht fast nichts mehr. „Ideologie tritt in den Hintergrund. Die Parteien müssen pragmatisch Lösungen für aktuelle Themen anbieten“, sagt Plasser. Wer mehrheitsfähig sein will, muss „flexible Wählerkoalitionen eingehen, um wettbewerbsfähig zu bleiben“.

Dynamik durch Bildung

Nicht erst die Globalisierung oder das Internet haben das feste gesellschaftliche Gefüge zur Erosion gebracht, die Dynamik entstand bereits früher, in der Mitte der Achtzigerjahre. Verantwortlich waren laut Plasser der Strukturwandel in der Wirtschaft, die Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, steigendes Bildungsniveau, hohe Qualifikationsanforderungen, mehr Wettbewerb. Plasser: „Die Bank sucht man sich heute nach dem besten Service aus und nicht danach, wo die Eltern ihr Konto haben.“

Wie geht die Entwicklung weiter? „An ein Post-Parteiensystem glaube ich nicht, die Parteien werden nicht verschwinden“, so Plasser. Die Kerne der traditionellen Parteien würden weiter schrumpfen, und es sei erwartbar, dass sich Wählerplattformen zu aktuellen Themen formieren.

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