Vernaderung oder Enthüllung? Wie aus kleinen Vergehen in sozialen Medien Skandale werden
Man stelle sich Folgendes vor: Da hat jemand gegen eine Regel oder eine gesellschaftliche Übereinkunft verstoßen. Jemand anderer zeigt das auf, vielleicht im direkten Gespräch. Und der Regelverstoßer entschuldigt sich. Wie finden Sie das? Nicht sehr spannend vermutlich.
Des Gesundheitsministers achtlos auf die Straße geworfener Zigarettenstummel wäre in diesem Fall diese Woche wohl kein Diskussionsthema gewesen. Es war aber anders. Weil beim Aufzeigen die sozialen Medien ins Spiel kamen. Ein Anti-Tschickstummel-Aktivist filmte den Minister samt Tschickstummel und kommentierte das Vergehen auf Facebook.
Aufmerksamkeit erreichen wollen
Das ist fast schon ein Garant für Aufmerksamkeit, die für Psychologin Christina Beran gerade in den sozialen Medien „eine starke Währung“ ist. „Weil wir Menschen hypersoziale Wesen sind.“ Das heißt, wir reden über Ereignisse, wir erzählen es weiter.
Es heißt aber auch: „Wir bauschen gerne etwas auf. Das generiert wiederum Aufmerksamkeit. So bekommt ein Thema rasch eine Eigendynamik.“ Schnell sind Sachverhalte dann emotional aufgeladen. Darauf wird emotional regiert.
Was wäre die Alternative? „Tief durchatmen, Geschwindigkeit rausnehmen, Ruhe reinbringen und sich in den anderen hineinversetzen.“ Abstand zu gewinnen ist da oft hilfreich und: die Mechanismen dahinter bewusst machen.
Mit dem Finger zeigen
Woher kommt das Bedürfnis, mit dem Finger auf andere zu zeigen? Für Beran hat das einen evolutionspsychologischen Hintergrund. Als die Menschen in kleineren Gruppen zusammenlebten, war so etwas wie ein Grundkonsens über Richtig und Falsch ausgemacht.
Bewegte man sich einmal außerhalb davon, machte die Gruppe darauf aufmerksam. Beran vergleicht das mit einem „sanften Anstupsen, um jemand wieder zurück zur allgemeinen Übereinkunft zu bringen“. Im Idealfall reflektiert der Betreffende sein Verhalten und überlegt – eine „Abkühlungsphase“ setzt ein. Dafür nimmt sich der Mensch des 21. Jahrhundert allerdings immer seltener Zeit.
Impulskontrolle
Und das hat Folgen für die Impulskontrolle. „Durch die Geschwindigkeit der sozialen Medien und ihrem Sofort-Charakter gewöhnen wir uns daran, nicht mehr nachzudenken, bevor eine Nachricht abgesetzt wird.“ Ein schneller Impuls setzt eine Kaskade in Gang, an deren Ende eine Denunziation stehen kann.
Für Christina Beran, die ihre Praxis in Wien betreibt, ist das bedenklich. „Unsere Gesellschaft funktioniert nur, weil wir Impulse kontrollieren können.“
Dabei hilft, sich bewusst zu machen, dass der Kontext einen Unterschied macht: „Es ist etwas anderes, wenn ich im Freundeskreis heiß debattiere oder ob ich es wortwörtlich genauso in Social Media schreibe. Damit hole ich mir eine dritte Instanz dazu, das ist vielen nicht bewusst.“
Petzen und Zivilcourage
Interessanterweise löst zum Beispiel das Wort Petzen – etwa die Klassenkollegen beim Lehrer anschwärzen – ganz andere Bilder aus. Obwohl dabei wie beim Denunzieren zwei Akteure und eine dritte Instanz beteiligt sind. Diese kann man sich übrigens auch – der Folgen – ganz bewusst dazuholen, merkt Beran an.
Etwa, wenn es um Zivilcourage im öffentlichen Raum geht und z.B. Problemlagen via Handyaufnahmen an zuständige Stellen gesendet werden. „Begriffe machen einen großen Unterschied, sie erzeugen eine andere emotionale Ladung, obwohl die Elemente (Anm. zwei Akteure, eine dritte Instanz) die gleichen sind. Die Assoziationen und Bilder, die mit Petzen erzeugt werden, unterscheiden sich dabei von jenen einer Denunziation.“
Beran empfiehlt, den ersten Impuls zu überprüfen, bevor man in die Tasten haut: „Man kommt dem Wesen des Mediums, das zur Geschwindigkeit verleitet, schwer aus, es gibt den Rahmen vor.“
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