Wer im Zarenreich oder während der NS-Herrschaft jemanden anschwärzte, erfüllte die Erwartungen der Autoritäten und handelte meist legal, nach heutigen Maßstäben aber verwerflich. Zum Beispiel konnte während der spanischen Inquisition jeder, der innerhalb der ersten 30 Tage eines Tribunals seine Sünden gestand, mit Milde rechnen. Sofern er gleichzeitig andere vernaderte.
Venedig, der Denunzianten-Staat?
Im Venedig des 14. Jahrhunderts wurde das Denunzieren regelrecht institutionalisiert. Jeder konnte im Dogenpalast Mitbürger anonym anzeigen. Steinerne Briefschlitze nahmen, streng nach Behörden getrennt, die Anschuldigungen auf. Anzeigen wegen Korruption landeten in dem einen Briefkasten, Beschuldigungen wegen Beschädigung der Lagune in einem zweiten und Denunziationen als Ketzer in einem dritten. Inschriften unter den sogenannten "Löwenmäulern" zeigten an, welche Beschuldigung dort gesammelt wurde. Für viele Angeschwärzte war es der Anfang eines Geheimverfahrens, das mit Folter und Tod endete.
Der Historiker Manfried Rauchensteiner zögert aber, der Lagunenstadt oder irgendeiner anderen Gesellschaft das Prädikat Vernaderer-Staat umzuhängen:
Exemplarische historische Fälle fallen ihm aber durchaus ein: "Etwa das 17. Jahrhundert und der Hexenwahn. Ende dieses Jahrhunderts gerieten wiederum Freimaurer in Generalverdacht, staatliche Strukturen zu zerstören."
Soziologe Bergemann unterscheidet zwischen Regimen, die Vernaderei durch Zwang und Anreize – etwa Geld oder berufliche Vorteile – fördern und jenen die auf Freiwilligkeit setzen. "Da werden dann der Schutz der Anonymität oder die Garantie der Vertraulichkeit betont", sagt Historiker Maderthaner. Das klinge fast demokratisch, sei aber in Wahrheit ein Kontrollinstrument, das Whistleblower fördert.
Bergemann hat jedenfalls Anzeichen dafür gefunden, dass ein "freiwilliges" Umfeld opportunistisches Verhalten und Denunziationen verstärkt – egal, ob im zaristischen Russland, während der NS-Herrschaft oder in der Gegenwart. Und erzählt von jener Hotline des US-Rechnungshofs, bei der Ende der 1970er Missbrauch von Bundesmitteln gemeldet werden konnte: 100.000 Leute riefen an. Nur ein Prozent lieferte brauchbare Infos.
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