Warum das Rennrad jetzt boomt
Wissen Sie, was ein Mamil ist? Das Wort stammt aus dem Marketing-Jargon, tauchte erstmal um 2010 in Großbritannien auf und beschreibt „mittelalterliche Männer in Radlerhosen“ (middle-aged man in lycra), die sich sündteure Rennräder leisten, um – so die Annahme – ihre Midlife-Crisis besser zu bewältigen.
Elf Jahre später ist das Statussymbol Rennrad längst nicht mehr „mittelalterlichen Männern“ vorbehalten. Rennradsport boomt, zuletzt vor allem bei Frauen und Jüngeren.
Klimawandel und Mobilität
Thomas Rohregger, Ex-Radrennprofi und ORF-Olympia-Kommentator, bestätigt den Trend: „Das Interesse am Radrennsport ist stark gestiegen. Generell wird das Thema Rad immer wichtiger. Da spielen auch gesellschaftspolitische Entwicklungen mit – wie Klimawandel und Mobilität. Die Erfolge von Spitzensportlern wie Patrick Konrad oder Anna Kiesenhofer sind da eine logische Entwicklung“, sagt Rohregger, der die Triumphfahrt Kiesenhofers vergangenen Sonntag live im Fernsehen mitreißend kommentierte.
Das gestiegene Interesse spiegelt sich auch in den Absatzzahlen wider. In den vergangenen Jahren gingen die Verkäufe von Rennrädern steil nach oben. 2020 wurden damit hierzulande knapp 21 Millionen Euro umgesetzt.
Rennradsport sei darüber hinaus schick und sexy geworden. „Wer Rad fährt, muss jetzt ein Rennrad haben.“ Der Hype habe vor etwa fünf Jahren begonnen. Auch, weil viele vom Laufen aufs Rad umgestiegen sind. Oft aus dem einfachen Grund, dass es als gelenksschonender gilt.
Der Reiz am Rennrad? „Man kann die nähere Umgebung entdecken, mit Biketasche auch lange Reisen machen. Und mit dem Rennrad lassen sich mehr Kilometer machen als mit einem E-Bike, das nie die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Rennrades erreicht.“ Nicht zuletzt, sagt Rohregger, liege die Attraktivität auch in der Ästhetik: „Das Rad hat eine lange Historie. Die Tour de France ist eine der ältesten und prestigeträchtigsten Sportveranstaltungen und hat mittlerweile auch viele Lifestyle-Komponenten.“
Dass Rennradfahren weit mehr als nur ein Sport ist, zeigt sich auch an aktuellen Modetrends. Die deutsche Vogue nennt die hautengen Shorts „trendweisend“. Und Fitness-Apps wie Strava sind nicht mehr reine Training Tracker, sondern soziale Netzwerke für Sportaffine geworden. „Radsport verbindet und eignet sich gut zum Socializen“, sagt Rohregger.
Immer noch sind Frauen im Radsport unterrepräsentiert, nach wie vor ist der Radrennsport eine Männerdomäne. Möglicherweise wird Anna Kiesenhofers Olympiasieg künftig auch bei Frauen die Lust am schmalen Reifen verstärken. Die Mitzis sind längst angefixt. Der Frauenradklub mit dem offiziellen Namen „Mitzi and Friends Women’s Cycling Club“ ist in der Rennradszene schon lange gut bekannt. Gegründet 2014, verfolgt der Verein das Ziel, Frauen den Einstieg in den Radsport zu erleichtern und sie beim Training zu unterstützen.
Gilt doch das Rad als Symbol für Emanzipation: Schon Frauenrechtlerin Rosa Mayreder ermutigte Frauen, sich in den Sattel zu schwingen. „Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frauen aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammengenommen,“ schrieb Mayreder. Die Frau am Rad war von Beginn an vielen ein Dorn im Auge. Das Radfahren galt als unschicklich. Zwar begann die Geschichte des Frauenradrennsports Mitte des 19. Jahrhunderts, doch wurden Frauenrennen um die Jahrhundertwende wieder verboten. Im Iran ist öffentliches Fahrradfahren übrigens immer noch untersagt.
9.398
Rennräder wurden 2020 verkauft. Das ist eine Steigerung von 29 Prozent zum Vorjahr – Online-Verkauf nicht eingerechnet
1,9 Prozent
ist damit der Anteil der Rennräder am Gesamtmarkt. Von den 496.000 Fahrrädern, die insgesamt über die Theke gingen, waren 200.000 E-Bikes
800Kalorien
verbraucht ein 80 Kilo schwerer Rennradfahrer in etwa in einer Stunde, wenn er kräftig in die Pedale tritt
Ein Massenphänomen ist der Rennradsport immer noch nicht. Das Plus von 13 Prozent am österreichischen Fahrradmarkt im Jahr 2020 liegt vor allem am E-Bike. „Aber die Nische Rennrad wird immer größer und verspricht gute Umsätze für die Händler, weil Rennräder einen höheren Durchschnittsverkaufspreis haben“, erklärt Hans-Jürgen Schoder, Sprecher der ARGE Fahrrad und CEO des Fahrrad-Großhändlers Thalinger Lange. Zwar geht es preislich schon bei 2.500 Euro los, echte Liebhaber können aber bis zu 15.000 Euro ausgeben.
Um den Nachwuchs weiter zu fördern, braucht es laut Ex-Profi Thomas Rohregger Vereine und die nötige Infrastruktur. Dass das Dusika-Radstadion in Wien ausgerechnet jetzt abgerissen wird, kann er sportpolitisch nicht nachvollziehen. „Es braucht dieses Angebot.“
Immer noch Nische
„Es geht um innere Stärke“
Magdalena Wahlmüller (30) lenkt & denkt. Die gebürtige Oberösterreicherin ist eine der vielen Millennials, die im Lockdown ihre Leidenschaft für die Straße entdeckten. „Ich war immer sehr auf Yoga fixiert und mir fehlte die Muße, mich auf etwas Neues einzulassen. Während Corona habe ich mich erstmals detailliert mit dem Radfahren beschäftigt. Seitdem fahre ich mindestens eine Tour pro Woche.“
Am liebsten startet die Inhaberin eines Geschäfts für Inneneinrichtung auf dem Sattel in den Tag. Ihre Hausrunde führt sie in die grünen Wiener Weinberge. „Ich liebe es, gleich frühmorgens loszufahren, weil ich danach so viele Termine habe. In der Früh fahre ich oft alleine, sonst entweder mit meinem Freund oder mit Freunden – nachdem in der Corona-Zeit so viele begonnen haben, findet sich eigentlich immer jemand.“
Wie viele „Radfluencer“ postet die 30-Jährige auf ihrem Instagram-Profil schöne Momente auf dem Bike oder teilt ihre gefahrenen Strecken in der Sport-App Strava. „Es gibt mittlerweile eine große Online-Community, die sich gegenseitig motiviert und inspiriert. Da gibt es null Neid, eher wird man total gepusht.“ Längst hat sich um den Sport auch ein Lifestyle-Sektor etabliert, Cycling-Socken (etwa von Fingerscrossed) und Trikots (wie von BBUC) wurden zu hippen Modestatements.
Wettkampfgedanke
Auch Wahlmüller geht es nicht primär um den Wettkampfgedanken. „Für mich ist Radfahren gut, weil ich in eine meditative Haltung komme. Irgendwie vergisst man mit der Zeit den Körper, gerade wenn man im Windschatten mitfährt. Es ist extrem cool, wenn du einen gewissen Speed draufhast und nah am Vorderen bist. Du trittst und trittst und vergisst alles um dich herum, bist nur auf den Menschen vor dir fokussiert. Dadurch wird der Kopf frei und es poppen viele Ideen auf, was für meinen Job extrem wichtig ist.“
Das Körpertraining ist ein positiver Nebeneffekt, wichtiger aber sei das Durchhaltevermögen, das man erlernt. „Da geht es nicht ums Abnehmen, sondern um innere Stärke.“
„Man entwickelt ein Suchtverhalten“
Seit der Pandemie hat Simon Tartarotti eine Hosengröße mehr. Schuld sind nicht die Corona-Kilos, sondern sein neuer Lieblingssport. Als Kind der Berge war der 35-Jährige immer schon aktiv, in Wien lief er sogar einen Marathon. Im ersten Lockdown sattelte er auf Rennradfahren um. „Ich bin hineingekippt und nicht mehr herausgekommen. Man entwickelt ein Suchtverhalten.“
Im Gegensatz zum Laufen müsse man beim Rennradfahren den Schweinehund nicht jedes Mal aufs Neue überwinden, sagt er. Die 2.500 Kilometer im Corona-Jahr 2020 hat er schon jetzt übertroffen.
Inzwischen besitzt Tartarotti vier Räder – damit es nicht mehr werden, hat er sich selbst ausgetrickst. „Sie sind nach meinen Großeltern benannt. Im Arbeitszimmer hängt zum Beispiel der Hermann. Nachdem ich natürlich nur vier Großeltern habe, kann ich nicht einfach ein fünftes kaufen.“
Auch im Winter
Mit seinen vier, darunter ein Cyclocross, das für Asphalt und Offroad geeignet ist, kommt er ohnehin gut durchs Jahr. Der Leiter einer Kommunikationsabteilung radelt auch bei Eis und Schnee, wie seine Abonnenten auf Twitter und Instagram (@radlrotti) wissen. „Im Winter auf die schneebedeckte Sophienalpe zu radeln, macht einfach richtig Spaß. Das kann ich nur empfehlen.“
Ein Erlebnis war auch die Tour von Salzburg nach Verona im Juli. Über sein neues Hobby kam er wieder mit einer alten Bekannten in Kontakt – gemeinsam starteten sie gen Süden, legten an den ersten Tagen fast 200 Kilometer und über 1.000 Höhenmeter zurück. „Da kommst du an deine Grenzen. Aber am Ende hast du ein riesiges Erfolgserlebnis.“
Das Tolle am Rennradfahren? „Es führt einen an Orte, die man sonst nie sehen würde.“ Irgendwann möchte der 35-Jährige quer durch Russland bis nach Wladiwostok radeln. „Nicht, weil ich mir etwas beweisen will, sondern aus der Lust, Neues zu entdecken.“
„In den Sonnenaufgang radeln und danach ein Stück Kuchen essen“
Christina Neubauer (28) fährt für den Genuss und bloggt über ihre Leidenschaft. Als die Burgenländerin Christina Neubauer 2014 vom Mountainbike aufs Rennrad wechselte, fand sie im Netz nur wenige Tipps – schon gar nicht für Frauen. „Es gab genau einen Radblog, und der war von einem Mann.“ Also startete die Consulterin und Fotografin mit ihrem Freund Andy, einem Radtrainer, ihren eigenen Blog mit Routen, Tipps und Inspirationen.
Heute ist www.geradeaus.at einer der erfolgreichsten Rennradblogs in Österreich. Die 28-Jährige legt im Jahr bis zu 6.000 Kilometer zurück und möchte Frauen ermutigen, sich ebenfalls auf den Sattel zu schwingen. „Viele Frauen haben Respekt davor, den ersten Schritt zu machen und viele Kilometer an einem Stück zurückzulegen. Stehenbleiben ist keine Schande. Ich bin selbst oft Schlusslicht in der Gruppe und hätte mir nie gedacht, dass ich es einmal über einen Pass wie den Stelvio oder Großglockner schaffen würde.“
Olympiagold
Seit einigen Jahren ändere sich das Bild auf den Straßen ohnehin, das Olympiagold von Anna Kiesenhofer brachte zusätzlichen Rückenwind. „Mich haben tatsächlich viele Freundinnen kontaktiert, die nach dem historischen Sieg überlegen, ebenfalls mit dem Radeln anzufangen. Mein Freund trainiert aktuell sogar mehr Frauen als Männer. Auch im Radverein merkt man viel mehr Zulauf von Frauen.“
Neubauer fährt selbst keine Rennen, sie liebt es, auf den noch leeren Straßen in den Sonnenaufgang zu radeln und danach ein gutes Stück Kuchen zu essen. Der Genuss steht im Vordergrund, ihr Motto lautet: Sunshine instead of Kilometers, Sonnenschein statt Kilometern. „Inzwischen kann ich mich auch mit vielen Freundinnen zum Radfahren verabreden. Statt Spaziergängen machen wir jetzt Spazierausfahrten auf den Radwegen in der Umgebung.“
In der Pandemie hätten viele gemerkt, wie wichtig Stressabbau ist. Auf dem Rennrad gehe das besonders gut, sagt Neubauer. „Dieses schier Endlose einer Geraden hat für mich einfach etwas Beruhigendes.“
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