Unfallserie bei der Bahn: So will ÖBB-Chef Matthä die Sicherheit erhöhen
Andreas Matthä (56) begann seine Karriere 1987 bei der ÖBB-Brückeninstandhaltung. Seit Mai 2016 ist der gebürtige Villacher Vorstandsvorsitzender. 2017 und 2018 gab es auf der Schiene eine Serie schwerer Bahnunfälle mit über 100 Verletzten und einem Todesopfer. Mit dem KURIER sprach Matthä über die Sicherheit auf der Bahn.
KURIER: Das Verkehrsministerium sieht eine signifikante Unfallserie mit mehreren beteiligten Bahnunternehmen. Was für Ursachen haben die ÖBB erkannt und wie werden die Probleme gelöst?
Andreas Matthä: Für mich ist Sicherheit ein Menschenrecht. Unsere Fahrgäste und die Mitarbeiter müssen die Gewähr haben, sicher nachhaus zu kommen. Das ist ein Basisversprechen. Niemand denkt nach, wenn er mit dem Zug fährt, ob er ankommt. Ich erzähle da immer die Geschichte von meiner Tochter, wie sie ihren Führerschein frisch hatte und dann nach Salzburg gefahren ist. Da habe ich gesagt: Du rufst aber schon an, wenn du gut angekommen bist. Weil Autofahren da kann tendenziell etwas passieren. Beim Zugfahren würde ich das nie tun. Dieses Grundvertrauen in das System Bahn müssen wir mit aller Kraft verteidigen.
Wie zum Beispiel?
Da ist immer der Dreiklang Technik, Organisation und Mensch. Je mehr Technik wir einsetzen desto mehr müssen wir auf den Menschen aufpassen. Statistisch haben wir gar nicht mehr, aber auffallend schwere Unfälle. Das kann man nicht so stehen lassen. Eine Maßnahme ist eine Warnapp, die den Triebfahrzeugführer warnt, wenn er ein Halt-Signal nicht wahrnimmt.
Ist diese App schon fertig?
Das ist ein Testbetrieb und wird jetzt ausgerollt. Sonst sind jetzt die blauen Halt-Signale für den Verschub im Test. Damit hat man eine bessere Unterscheidung. Wenn es viele Verschubsignale gibt, ist alles weiß. Zuglauf-Checkpoints sind ein wichtiges Thema, aber auch 500-Hz-Magneten.
Diese Magneten sind in den Hauptstrecken eingebaut, auf den aber Nebenstrecken kaum.
Was gehen hier nach einer Risikoanalyse vor. Aktuell haben wir 1400 Magnete verlegt. Und wir wollen nochmals 1000 verbauen. Später sollten wir auf allen großen Strecken aber das Zugsicherungssystem ETCS haben.
Wie schaut es mit dem weiteren Ausbau des ETCS aus?
Wir haben das aktuell auf 484 Kilometern im Einsatz. Das Ziel ist, bis 2030 die gesamte Weststrecke, den Brenner, Tauern, Arlberg und die Südstrecke auszurüsten.
Kann man schon sagen, was dieser Ausbau kostet?
Bis 2022 investieren wir in alle Sicherheitsaspekte 1,1 Milliarden Euro, da geht das meiste in ETCS, Stellwerkstechnik, Gleisfrei-Meldeanlagen und 500-Hz-Magneten. Und wir setzen jetzt auf neue Hemmschuhe. Die haben reflektierende Einheiten, aber das kostet nicht so viel. Diesen hochsichtbaren Hemmschuh hat übrigens ein Mitarbeiter von uns entwickelt, der ist jetzt auch für den ÖBB-Mitarbeiter-Award nominiert.
Gibt es durch die Hemmschuhe nun weniger Geisterzüge?
Ja. Aber dafür gibt es jetzt mehr Entgleisungen. Dadurch dass jetzt mehr gelegt werden, kommt es auch dazu, dass die Kollegen die Hemmschuhe nicht immer entfernen. Dann zieht ihn der Zug mit bis zur nächsten Weiche. Und dort überklettert dann das Rad den Hemmschuh. Wenn das Rad zwei Zentimeter abhebt ist das statistisch eine Entgleisung. Das wollen wir vermindern.
Bei Lokführern ist ein großes Problem die Monotonie. Warum wird für sie nicht das Handy verboten?
Das Verbot gibt es.
Nur die Nutzung ist verboten.
Das Handy muss in der Tasche sein. Das private darf nirgendwo liegen. Das dienstliche ist in der Tasche und nur in Notfällen zu benutzen. Aber ich bin schon 30 Jahre bei der Bahn und mir ist klar, dass nicht alles, was man anordnet auch durchgängig befolgt wird. Wir sagen den Leuten: Wir verstehen das ja, aber das kann wirklich böse ausgehen.
Damit sind wir beim Thema Sicherheitskultur...
Es gibt Branchen, die da weiter sind als wir, etwa die chemische Industrie. Ich sage immer: Führung durch Vorbild. Man kann von seinen Mitarbeitern nicht verlangen, etwas zu tun, das man selbst nicht tut. Wir Österreicher neigen ja zum „das passt scho“ – das führt aber dann dazu, dass der Mitarbeiter sich sagt, dass der Chef sich eh nicht aufgeregt hat. Das sind Hausbräuche, die sich einschleichen.
Betrifft das die Meldekultur?
Ja, die gesamte Melde- und Fehlerkultur. Das wichtigste ist, dass man es meldet, wenn was passiert ist oder Gefahren erkannt werden. Das ist für unsere Kultur hyperschwer, das muss ich ganz offen sagen. Weil Eisenbahn sehr auf Befehl und Gehorsam basiert. Da muss man echt ermuntern, dass Fehler gemeldet werden. Ohne Sanktionen, das wird sogar bonifiziert – im verbalen Sinne. Aber sind war da schon weit? Nein. Vertrauliches Meldewesen machen wir jetzt seit zwei Jahren. Früher gab es da ein Strafsystem und die älteren Kollegen haben das fix in sich drinnen. Das wird Jahre dauern. Wir versuchen den Lokführern zu erklären: Freunde, ihr seid vom Grundanimo einem Piloten ähnlich. Die fahren mit 500 Leuten hinten und das hängt von ihnen ab.
Sie suchen intensiv Personal, auch 2000 Lokführer. Wie ist da der Stand der Dinge?
Wir haben vergangenes Jahr mit einer Kampagne begonnen. Das führt schon dazu, dass wir mehr Bewerber haben als Ausbildungsplätze.
Können Sie da auch mehr bezahlen? Weil andere Bahnen ziehen ja Lokführer ab.
Vor allem Deutschland ist da eine ganz schräge Geschichte. Die haben so wenig Lokführer, dass die Leute sogar Dienstautos bekommen. Wir haben aber ein faires Einstiegsgehalt. Es gehen von uns immer wieder Lokführer weg, aber die kommen meistens wieder zurück. Das Gesamt-Package der ÖBB ist in Ordnung.
Es gibt ja die Idee der Rail-Academy. Was man hört, geht es dem Projekt nicht so gut...
Finden Sie? Also der Fluch der Zeit ist immer, dass alles zu langsam geht. Aber aktuell ist es so, dass wir eine Ausbildungsstätte in St. Pölten haben. Die ist aber schon in die Jahre gekommen. Da bin ich schon drin gesessen und war schon alt. Fakt ist aber, dass es kürzlich den Spatenstich gab. Weil ich wirklich der Meinung bin als Netzbetreiber des österreichweiten Schienennetzes, dass jeder Lokführer egal von welcher Gesellschaft einmal dort vorbeigeschaut haben muss – etwa für eine Qualifikationsprüfung.
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Eisenbahnerlatein für Anfänger
500-Hz-Magnet
Überfährt ein Zug den 500-Hz-Magneten wird die Geschwindigkeit automatischreduziert und nach rund 150 Metern gestoppt. Wirksam sind sie nur wenn ein Signal danach auf „Halt“ steht. Das ist Teil der Punktförmigen Zugbeeinflussung (PZB). aus 1930er-Jahren.
ETCS
Das European Train Control System bremst und beschleunigt Züge vollautomatisch. Es sind keine Signale mehr notwendig. 2004 wurde beschlossen, es europaweit einzuführen. Es gibt verschiedene Ausbaustufen (Levels).
Hemmschuhe
Keile, die unter die Räder geschoben werden. Zuletzt waren Züge von selbst losgerollt und so als „Geisterzug“ unterwegs.
Zuglauf-Checkpoints
Schaut wie eine Art Tor aus, durch das ein Zug fährt. Gemessen wird dort zum Beispiel, ob Ladung überhängt oder es technische Auffälligkeiten (wie heißgelaufene Räder) gibt.
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