Lehrergewerkschafter: "Pro Arbeitstag kündigen derzeit drei Lehrer"
Thomas Krebs ist Pflichtschullehrergewerkschafter in Wien und weiß, wo die Not im System besonders groß ist. Der Lehrermangel an Pflichtschulen sei flächendeckend ein Problem. Aber nicht nur das.
KURIER: Herr Krebs, mit welchen Problemen kommen die Kolleginnen und Kollegen zu Ihnen?
Thomas Krebs: Die Bandbreite ist riesig. Das beginnt mit Anfragen zu Verrechnungen, weil wir auf ein neues System umstellen – allein für das Einreichen eines Fahrscheins braucht es 17 Mausklicks - geht über Besoldungsfragen bis zur Klage, die leider sehr oft vorkommt: „Ich kann nicht mehr. Ich höre auf.“
➤ Mehr dazu: Lehrermangel: Auch Pensionisten werden umworben
Was sind die Gründe für Kündigungen?
Zum einen eine falsche Erwartungshaltung. Die derzeitige Ausbildung bildet nicht wirklich für den Beruf aus, schon gar nicht für die Pflichtschule. Dass sich diese akademische Blase der Universität nicht in der Schule abbilden lässt, das sagt einem im Studium niemand. Den Kolleginnen und Kollegen fehlt es an Praxis: Die Tatsache, dass Kinder emotional und nicht immer rational agieren können, ist vielen nicht bewusst.
Und zum anderen?
Es ist zu viel – auch für die, die den Beruf gerne und gut ausüben. Es sind zu viele Aufgaben, die mit der eigentlichen Tätigkeit einer Lehrperson nichts zu tun haben. Wir verwalten uns zum Beispiel in einem großen Bereich selbst. Eine Schulveranstaltung zu organisieren, liegt bei der Lehrperson und in der Letztverantwortung in der Schulleitung: von der Organisationsarbeit über das Suchen des Quartiers bis zur Organisation der Veranstaltungen bis zur Abrechnung. Das ist viel Arbeit. In anderen Schulsystemen in Europa gibt es dafür administrative Unterstützung.
Es gibt ja jetzt administrative Kräfte an den Schulen.
Und das ist gut so. Hier gibt es ein großes Aber: Die Einschulung dieses Sekretariats liegt zu 100 Prozent bei den DirektorInnen. Jeder, der jemanden in eine komplexe Arbeit eingeschult hat, weiß, was das bedeutet. Und das neben der überbordenden Arbeit als Schulleitung! Zudem gibt es eine relativ hohe Fluktuation bei den Sekretariatskräften.
Ist es nur die Administration, die Lehrpersonen belastet?
Nein, viele Kinder und Jugendliche bringen traumatischen Erlebnisse und soziale Probleme mit - auch Aggression ist ein Thema.
Insbesondere in schlecht geführten Schulen kommt es häufig vor, dass Berufsanfänger die schwierigsten Klassen zugeteilt bekommen. Was raten sie diesen Kolleginnen und Kollegen?
Das betrifft nicht nur junge Lehrpersonen. Ganz wichtig ist, dass sich die Betroffenen die Situation einmal eingestehen und fragen: Wie geht es mir wirklich? Es ist Aufgabe des Standortes, unterstützend einzugreifen. Sollte man einige Dinge probiert haben und das Gefühl haben, das klappt noch immer nicht – dann ist mein Rat, es an einem anderen Standort zu probieren. LehrerInnen haben die Möglichkeit, sich versetzen zu lassen. Es gibt in Wien über 500 Schulstandorte.
Wie viele Lehrkräfte verlassen im ersten Berufsjahr die Schule?
Jetzt am Schuljahresende sind es besonders viel. Vergangene Woche waren es in nur einer Woche 17 – das ist mehr als einer pro Tag. Wir hatten im Mai ungefähr 40 Auflösungen.
Da sind wir beim Thema Lehrermangel. Gibt es Schulen, die besonders betroffen sind?
In Wien ist das Problem flächendeckend, gravierend ist es in der Volksschule. Wir haben zwar Neueinstellungen, aber das sind vielfach KollegInnen ohne Ausbildung, die mit einem Sondervertrag bereit sind, zu unterrichten und sich verständlicherweise gewisse Tätigkeiten nicht zutrauen, etwa die Klassenführung. Das Gleiche gilt für Studierende. Das heißt: In der Volksschule suchen wir vor allem Klassenlehrerinnen. Der Bildungsdirektion hat von ungefähr 100 Personen gesprochen, die gesucht werden. Intern heißt es, dass es deutlich mehr sind.
Und wie viele Klassen gibt es in Wien?
Es gibt rund 280 Volksschulen. Ich habe aus einer Region gehört, in der jede Schule im Moment 3 bis 4 Lehrkräfte sucht.
Studierenden würden Sie aber nicht raten, gleich eine Klasse zu übernehmen.
Manche teilen sich zu zweit eine Klassenführung, was da und dort gut funktioniert. Aber das ist natürlich eine enorme Belastung. Das Gravierende ist, wenn dadurch das Studium leidet und die Studierenden keinen Abschluss machen. Viele, die jetzt schon in der Klasse stehen, sagen, dass sich das neben dem Masterstudium nicht mehr ausgeht.
Gibt es noch Lehrergruppen, die extrem gefragt sind?
Wir haben so gut wie keine Sonderpädagogen mehr – auch weil es das Lehramt so wie früher nicht mehr gibt. Man kann nur den Schwerpunkt Inklusion wählen, was ich im Vergleich zu einem vollwertigen sonderpädagogischen Lehramt als einen großen Nachteil sehe. Wir haben in der Sonderpädagogik bei Neuanstellungen bereits eine Quote von mehr als 50 Prozent mit Sonderverträgen – das sind Leute aus anderen Berufen, etwa der Behindertenarbeit. Auch wenn ich dankbar bin, dass wir die Personen haben, ist das nicht ideal.
Mittelschul- und AHS-Lehrer haben die gleiche Ausbildung. Was heißt das für Mittelschulen?
Machen wir uns nichts vor: Sie werden in ganz Österreich kaum einen Mathematiklehrer finden, der sagt, er geht in die Pflichtschule. In der Mittelschule und Polytechnischen Schule haben wir zum Teil Bewerberinnen, die ein Lehramt haben, das dort nicht abgebildet wird, also zum Beispiel Französisch und Psychologie. Diese KollegInnen haben immerhin ein Lehramt, aber keine fachspezifische Ausbildung.
In Mittelschulen werden Klassen in Deutsch, Mathe und Englisch doppelt besetzt, während Lehrpersonen ein Volksschulklasse alleine unterrichten. Ist das klug?
Es ist eine langjährige gewerkschaftliche Forderung, in den ersten beiden oder - mit der Vorschule - ersten drei Schuljahren der Primarstufe eine Doppelbesetzung einzuführen. Wir wissen, wie weit die Reife der Kinder bei der Schuleinschreibung auseinanderklafft – das sind bei Schulbeginn oft vier Entwicklungsjahre. Nur ist es im Moment unrealistisch, das umzusetzen, wenn wir die Leute nicht haben. Die Doppelbesetzung in der Mittelschule wird mit den unterschiedlichen Niveaus begründet, die die Schüler haben. In kleineren Gruppen ist der Lernerfolg einfach größer.
Das klingt alles sehr pessimistisch: Warum soll ein junger Mensch da Lehrerin oder Lehrer werden?
Man kann unglaublich viel gestalten – und der Beruf ist unheimlich abwechslungsreich. Wenn man mit einer guten Portion Lebensfreude und ein bisserl Humor an die tolle Aufgabe herangeht, kann das wirklich herzerfrischend sein. Ganz besonders dann, wenn man die Geduld hat, wirklich eine Weile dranzubleiben und die Erfolge als Lehrerin oder Lehrer, die man manchmal erst viel später wahrnimmt, auch wahrnehmen darf.
Kommentare