Historiker: "Kritik an der Impfung ähnelt der vor 200 Jahren"

Roman Sandgruber
Napoleon hat die Impfpflicht gegen die Pocken eingeführt, die damit ausgerottet wurden. Die damaligen Argumente gegen die Impfung sind denen von heute ähnlich. Ein Interview mit dem Historiker Roman Sandgruber.

Roman Sandgruber ist Historiker. Der 74-jährige gebürtige Rohrbacher war bis zu seiner Emeritierung 2015 Leiter des Instituts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz. Er ist Autor mehrerer Bücher, so unter anderem von „Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde“, „Rothschild. Glanz und Untergang des Wiener Welthauses“ und „Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910“. Das Land OÖ ehrt ihn nun mit dem „Johannes Kepler-Preis“, es ist dies der mit 11.000 Euro höchstdotierte Landespreis für Kultur.

KURIER: Warum ist die Impfrate in Oberösterreich verhältnismäßig niedrig?

Roman Sandgruber: Das hat auch historische Gründe. Oberösterreich wird zwar jetzt ein wenig verteufelt, die Impfrate ist aber in ganz Österreich niedrig.

Die sonst gerne gescholtenen Länder des Südens wie Portugal, Spanien oder Italien haben eine wesentlich höhere Impfrate. In der Südschweiz (Tessin) ist sie höher als in den deutschsprachigen Kantonen (Basel, Zürich, Bern), in Sizilien ist sie höher als in Südtirol.

Die romanischen Länder haben die Impfpflicht bei den Pocken verankert. In Frankreich schon seit Napoleon (1769–1821). Diese Länder haben eine andere Tradition. Die Pocken sind die klassische Krankheit, an der sich das Impfen ausgebildet hat.

Wann war das?

Die sogenannte Variolation (gesunde Menschen werden mit Material aus Kuhpockenpusteln geimpft) haben schon die Inder beherrscht. Sie ist über den Orient nach Europa gekommen. Die Frau des englischen Botschafters in Konstantinopel Lady Mary Montagu (1689–1762) hat sie nach Europa gebracht. Die Pocken waren viel gefährlicher als die Pest. Im 18. Jahrhundert waren durchschnittlich 10 bis 15 Prozent der Todesfälle Pockenopfer. Alle paar Jahre kam es zu Pockenwellen. Die Pocken kannten keine Standesgrenzen, anders als Cholera oder Typhus, die vor allem die Armen betroffen haben.

Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) hat die Pockenkrankheit überstanden, sie hatte aber schon die Letzte Ölung empfangen gehabt. Ihr Onkel Kaiser Josef I. (1678–1711) ist ebenso an Pocken gestorben wie drei ihrer Kinder. Die zwei Gattinnen von Josef II. (1741–1790) sind an Pocken gestorben. Maria Elisabeth (1743–1808), das sechste der 16 Kinder Maria Theresias, hat die Pocken zwar überstanden, aber sie war durch die Pockennarben so entstellt, dass sie unvermittelbar war. (Als Maria Theresia 1780 starb, musste Maria Elisabeth wie ihre Schwestern Maria Anna und Maria Christine Wien verlassen, da Joseph II. die „Weiberwirtschaft“ am Hof beenden wollte. Sie wurde Äbtissin des Adeligen Damenstifts Innsbruck, das Maria Theresia nach dem Tod von Kaiser Franz I. 1765 gegründet hatte, damit dort für das Seelenheil ihres Gatten gebetet wird. Maria Elisabeth war in Tirol wegen ihrer scharfen Zunge gefürchtet. Zu den Pockennarben kam eine starke Korpulenz und ein dreifacher Kropf hinzu, der Volksmund nannte sie „kropferte Liesl“. 1805 floh sie vor den Truppen Napoleons nach Linz, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbracht hat, sie ist in der Gruft der Jesuitenkirche [Alter Dom] beigesetzt).

Dies hat Maria Theresia veranlasst, für die Impfung einzutreten. Die moderne Art der Impfung ist die Kuhpockenimpfung. Schon im 18. Jahrhundert hat man beobachtet, dass Stallmägde, die viel mit Kühen in Kontakt waren, gegen die Pocken immun waren. Das hat den englischen Arzt Edward Jenner (1749–1823) auf die Idee gebracht, mit Kuhpockenviren zu impfen.

Es gab massiven Widerstand, die Ärzteschaft war geteilt, die Bevölkerung noch mehr. Es gab religiöse Bedenken. Darf man in Gottes Willen eingreifen, denn Krankheit ist eine Einflussnahme Gottes. Die andere Argumentation war eine medizinische, denn die Impfung galt als nicht sicher, man hatte noch zu wenig Erfahrung. Politik hat eine Rolle gespielt, denn es war die napoleonische Zeit. Das spielte bei Andreas Hofer eine große Rolle, der ein massiver Impfgegner war und gemeint hat, die Franzosen wollen uns das Impfen aufs Aug’ drücken.

Der Staat wollte das Impfen durchdrücken, weil man gemerkt hat, dass Impfen hilft. In Österreich hat man sich für die eine indirekte Impfpflicht entschieden. Man hat die Ärzte ebenso dazu verpflichtet wie die Geistlichen. Sie mussten von der Kanzel predigen, sie mussten bei jeder Impfung dabei sein. Alle Impfgegner wurden diskriminiert. Nichtgeimpfte Kinder, die an Pocken verstorben sind, durften nicht kirchlich begraben werden.

Der Münsteraner Medizinhistoriker Malte Thiessen führt die niedrige Impfrate in den deutschsprachigen Gebieten unter anderem auf die starke Bewegung für Naturmedizin und Homöopathie zurück, die Impfungen ablehnen. Ist das eine plausible Erklärung?

Es spielt eine Rolle. Da gibt es religiöse Impfgegner und Naturheiler, die sagen, man darf nicht in die Natur eingreifen. Wobei Impfen natürlich viel mit Naturheilung zu tun hat. Es sind ja so kleine Dosen, sodass sie den Menschen kaum schaden können. Das ist eine naturnähere Art und Weise als die Einnahme massiver Medikamente.

In Deutschland wurde die Impfpflicht 1874 eingeführt. Unmittelbar nach der Gründung des Deutschen Reiches. Das Königreich Bayern hatte sie schon 1807 eingeführt. In Österreich hat es sich eher um einen Sonderweg gehandelt. Die Impfpflicht ist 1939 mit dem Anschluss an das Deutsche gekommen. Es ist schon lange vorher über die Impfpflicht diskutiert worden. Im Vormärz (1830–1848) mit indirekten Mitteln. Es gab die Impfpflicht in Waisenhäusern, im Heer und im staatlichen Dienst. Ungarn hat die Impfpflicht eingeführt, Österreich nicht.

Warum nicht?

Man hat gesagt, das ist nicht liberal, es geht um die Eigenentscheidung. Es gibt so viele Bereiche, in den man indirekt dazu gezwungen wird. Wir brauchen die Pflicht. Tatsächlich sind die Pocken ohne Einführung der Impfpflicht ausgestorben. 1921 gab es in Österreich den letzten Pockenfall. Nach 1945 hat man die von den Nazis eingeführte Impfpflicht beibehalten. Mit dem Argument, die vielen Besatzungssoldaten bringen uns wieder die Pocken. 1948 wurde ein spezifisch österreichisches Impfpflichtgesetz geschaffen, mit einer Strafe von 1.000 Schilling. Das wären heute vergleichsweise 10.000 Euro. Man musste damals die Kinder innerhalb des ersten Lebensjahres im Rahmen der Mütterberatung impfen lassen, mit 12 Jahren erhielten sie in der Schule eine Auffrischungsimpfung.

1921 gab es den letzten Pockenfall, zugleich herrschte die Spanische Grippe, der 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Wie hat sich die Spanische Grippe in Oberösterreich ausgewirkt?

Man weiß nicht sehr viel. Sie fällt in eine Zeit, in der die Menschen andere Sorgen hatten. Es war das Ende des Ersten Weltkriegs, der Zerfall der Monarchie, es herrschte Hungersnot. Aber sie war da. Es kann sein, dass in England und den USA mehr Menschen an der Spanische Grippe gestorben sind als am Schlachtfeld. Denn es gab kein Gegenmittel und keine Impfung. Sie ist wieder von selbst verschwunden. Die Zahl der Gefallenen in Deutschland und Österreich war aber so hoch, dass die Spanische Grippe nicht wirklich aufgefallen ist. Die Zahl der insgesamt Gefallenen wird auf 20 bis 30 Millionen geschätzt.

Die FPÖ bekämpft die Impfpflicht. Rechtsextreme versuchen, die Proteste zu vereinnahmen. Was sind die Gründe dafür?

Da gibt es liberale Gründe, Freiheit wird als absoluter Wert gesehen. Der andere ist Widerstand gegen die Staatsgewalt

Das Widerständige spielt im Innviertel eine Rolle. Das Innviertel war antistaatlich, anti-habsburgisch. Es ist erst 1778 zu Österreich gekommen. Die Region wäre lieber bei Bayern geblieben. In der napoleonischen Zeit ist sie wieder abgetrennt worden. 1816 kam sie endgültig zu Österreich. Es wurden alte Beziehungen durchschnitten, plötzlich gab es eine Zollgrenze. Das führt zu antihabsburgischen Aversionen.

Gleichzeitig gibt es im Innviertel alte aufständische Traditionen. Unter ihnen der Bayerische Hiasl (1736–1771). Es gab den großen Bauernaufstand 1704. Es gab die Pöschlianer, eine verrückte Sekte, die glaubte, durch ein Menschenopfer den für 1817 angekündigten Weltuntergang verhindern zu können. Sie wurde von Thomas Pöschl (1769–1837) angeführt, der in Braunau Kaplan war. 1817 wurde tatsächlich ein Mädchen geopfert. Im Innviertel spielen die Altkatholiken eine große Rolle. Sie haben Alois Hitler, den Vater von Adolf Hitler, massiv beeinflusst.

Die Sekten, vor allem die Zeugen Jehovas, spielen im Innviertel ebenfalls eine große Rolle. Der Wehrdienstverweigerer und Märtyrer Franz Jägerstätter ist verdächtigt worden, ein Zeuge Jehovas zu sein, was nicht stimmte. ie antipäpstlichen und antiobrigkeitlichen Tendenzen sind im Innviertel stark. Solche Tendenzen gibt es aber in ganz Österreich.

Die Kritik an der Impfpflicht ist auch eine Projektionsfläche für andere Erscheinungen, wie Kritik an der Moderne, an Pharmaunternehmen, am Kapitalismus, an staatlichen Maßnahmen und am Umgang mit Staatsbürgern.

Die meisten Argumente sind nicht rational. Es ist manches ähnlich wie vor 200 Jahren, als die Impfpflicht aufgekommen ist. Manche sagen, es wäre besser, der Natur ihren Lauf zu lassen. Der schwedische Weg ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir haben 12.000 Tote, Schweden hat 15.000 Tote, es ist aber um 1,5 Mio. Einwohner größer.

Verstehen Sie den Widerstand an der Impfpflicht?

Nein, ich kann ihn nicht verstehen. Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden, der auch wirkt. Es ist teurer. Aber er hat uns vor vielen Todesfällen und Dingen bewahrt, die es etwa in Brasilien gegeben hat. Die Schweden haben sich sehr diszipliniert an Abstände, Quarantäne und Kontaktbeschränkungen gehalten.

Sind Sie geimpft?

Freilich, dreimal. Aus der Geschichte heraus kann man nur für das Impfen sein. Sonst hätten wir die Pocken immer noch, die Tausende Jahre da waren. Es gibt die Impferfolge auch bei anderen Krankheiten wie der Kinderlähmung, Scharlach und Masern.

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