Diskussionsfreudiger afghanischer Lesezirkel zu Melisa Erkurt und Paulo Coelho
Von Heinz Wagner
„Sie hat gesehen, was wir nicht gesehen haben, trotz dessen, dass wir es erfahren und erlebt haben.“ Dieser Satz stammt aus der Zusammenfassung der Diskussionen über Melisa Erkurts Buch „Generation Haram“. Verfasst hat die umfangreiche Besprechung die 17-jährige Wiener Gymnasiastin Zahra Hosseini. Sie und die Erfinderin und Organisatorin des „afghanischen Buchklubs“, Saida Rezai, trafen den Kinder-KURIER in einem Zoom-Meeting.
Der Klub ist eine neue – seit vier, fünf Monaten – Aktivität der Interessengemeinschaft der afghanischen Studierenden und Schülern (IGASUS), wo die zuletzt Genannte auch im Vorstand ist. „Und er soll auch nicht auf die afghanische Community beschränkt bleiben, das ist erst der Anfang.“
Hier unten geht's zum ganzen Text von Zahra Hosseini über die Diskussion zu Erkurts "Generation Haram".
Fifty/fifty
Bei unserem Online-Treffen stellte Saida Rezai bald klar, dass dieser Klub nicht – wie viele Veranstaltungen, Bewerbe usw. im Bereich lesen und/oder schreiben eine (fast) reine Mädchenangelegenheit ist. „Wir haben 22 Mitglieder, davon sind 12 Mädchen und 10 Jungs. Für mich ist das so selbstverständlich. Wenn wir Workshops oder andere Projekte bei unserem Magazin machen, dann sind immer so ungefähr fifty-fifty Mädchen und Jungs dabei.“
Entstanden ist der Lesekreis im Lockdown, aber auch so ist das Online-Treffen sehr stimmig, „weil wir auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Salzburg, Ober- und Niederösterreich und natürlich Wien haben“, so die 21-jährige Checkerin, die am Campus Wien (Laaerberg) an der Fachhochschule Orthoptik studiert, eine Art Mittler zwischen Augenärzt_innen und Optiker_innen.
Integration durch Bildung
Sie hatte, so schildert sie, die Idee für so einen Buchklub schon sehr lange, der Lockdown wär dann endlich die ideale Zeit gewesen, dass sich so eine Gruppe bildet, jede und jeder liest und sich alle dann – eben online – treffen und über die Lektüre diskutieren. Alle haben dann Buchvorschläge in die Gruppe geschickt, gemeinsam wurde ausgewählt. Melisa Erkurts Buch war gerade in aller Munde, und die Schüler_innen und Studierenden mit afghanischem Background fühlten sich auch vom Thema Integration und Schule/Bildung sehr angesprochen. Immerhin ist der Leitspruch des Vereins IGASUS „Integration durch Bildung“.
Vielfalt der Lektüre
Insgesamt will dieser Buch- und Lese-Klub sich mit der „Diversität in der Lesekultur beschäftigen, verschiedene Genres deutschsprachiger Literatur kennenlernen – Romane, Dramen, Kurzgeschichten und so weiter“, so Rezai. „Wir wollen aber, wenn es dann möglich ist, auch Verfilmungen von Büchern oder Theaterstücke, die auf Büchern aufbauen, gemeinsam anschauen und darüber diskutieren.“ Dabei gehe es aber nicht nur um die Inhalte, sondern auch um die Beschäftigung mit der Sprache, „ein Ziel ist auch immer, unseren Wortschatz zu erweitern“.
Lieber schreiben als reden
Am Ende so eines Treffens, bei dem ein Buch besprochen wurde, wird auch in die Runde gefragt, ob jemand eine Zusammenfassung schreiben möchte. Für Erkurts Buch hat sich – wie schon erwähnt – Zahra Hosseini gemeldet. „Ich rede nicht so viel, ich schreibe lieber und mag es, meine Gedanken niederzuschreiben und dabei meine Gefühle raus zu lassen“, erzählt die 7.-Klässlerin des Gymnasiums am Wiener Henriettenplatz. Buchdiskussionen habe sie schon lange. „Meine Schwester und ich lesen oft die gleichen Bücher, reden darüber und haben oft unterschiedliche Gedanken dazu.“
Aber nicht nur Bücher sind es, worüber Zahra Hosseini schreibt. „Generell, wenn ich am Tag keinen freien Kopf habe, dann schreibe ich am Abend meine Gedanken und Gefühle nieder.“
Auf die Frage, ob sie immer auf Deutsch oder manchmal auch auf Dari oder Englisch schreibe, antwortet die 17-Jährige: „Immer auf Deutsch, ich denke auch auf Deutsch, da kann ich mich am besten ausdrücken, es ist meine stärkste Sprache. Außerdem hab ich keine persische Tastatur.“
Durch Wertschätzung der Lehrerin
Zum Schreiben abseits dessen was sie von der Schule aus muss „bin ich gekommen, weil mich meine Deutschlehrerin immer meine Aufsätze geschätzt und gelobt hat“. Das hat sie bestärkt. Eh klar, kommt aber noch immer generell viel zu selten vor!
Distance Learning ist für sie „jetzt viel besser, im ersten Lockdown war’s schwierig, da musste ich erst meinen jüngeren Geschwistern bei den Hausübungen helfen und konnte dann erst meine eigenen machen. Jetzt gehen die in ihre Volksschule und ich kann mich auf meine Aufgaben konzentrieren.“
Schreiben begeistert Zahra Hosseinis so, „dass ich vielleicht Schriftstellerin werden will“.
Späte Leidenschaft
Die Buchklub-„Mutter“ kam erst spät zur Lese-leidenschaft. „Für mich waren Bücher im Gymnasium so etwas wie Neuland. In der Hauptschule hab ich nur gelesen, wenn ich musste. Aber im Gymnasium hat unsere Lehrerin so einen Wettbewerb gestartet, wer am meisten Bücher liest. Da war ich ehrgeizig, den wollte ich gewinnen und hab begonnen ein Buch nach dem anderen zu lesen. Irgendwann hab ich den Bewerb gar nicht mehr im Kopf gehabt und nur für mich gelesen. Da war’s dann schon egal, wie fett ein Buch oder wie klein die Schrift war. Ich bin einfach zu Hause auf der Couch gesessen, Füße hoch und stundenlang nur lesen.“
Zunächst las sie alles, was ihr in die Hände fiel, dann nur Romane, die einen Bezug zur Realität hatten, später erweiterte die nunmehrige Studentin, die nach der Matura erst ein Jahr lang arbeitete und das Studium der Lebensmittel und Biotechnologie ausprobierte, das Spektrum ihrer Lektüre. „Dann hab ich mich für Geschichte und Literatur und die Zusammenhänge in verschiedenen Epochen interessiert. Diese Verknüpfungen fand ich voll cool – das war erst nach der Schule und ich find’s voll schade, dass vieles davon in der Schule eher langweilig gebracht wird und diese Zusammenhänge nicht hergestellt werden.“
Immer checken
Außerdem ist sie schon immer eine Checkerin gewesen. „Ich war oft Klassenprecherin, hab Nachhilfe gegeben. Für mich würde es nicht reichen, nur Family zu haben und Studium oder Arbeit. Ich muss noch andere Sachen daneben machen.“
Coelhos Alchimist
Beim zweiten Treffen, dessen Diskussion Saida Rezai zusammenfassen wird – „aber erst in drei Wochen, weil jetzt stehen große Prüfungen an“ – wurde Paulo Coelhos „Der Alchimist“ besprochen.
Sie selbst hat dieses Buch „schon zum zweiten Mal gelesen. Ich brauche dieses Buch in verschiedenen Lebensabschnitten immer wieder. Jedes Mal entdecke ich darin neue Inhalte, neue Sachen für mich.“
Ein wenig verrät die Buchklub-Erfinderin aber schon auch über die Diskussion: „Sie war sehr philosophisch. Wir haben uns auch tiefgründig ausgetauscht, wie wir das Leben empfinden. Im Buch sucht der Alchimist nach einem Schatz, der aber eh schon von Anfang an da war. Wir haben für uns gesagt, Der Schatz ist schon immer da wo wir sind, weil wir eigentlich alles haben was wir brauchen. Man muss sich nur daran erinnern oder erinnert werden, das auch zu sehen. Wir sind oft so geblendet und gestresst von all der Umgebung, dass wir vergessen, die schönen Seiten des Lebens zu genießen oder richtig wertzuschätzen.“