Sehen lernen

Sehen lernen
Hoffnung für Blinde: Durch Umwandlung von Licht in elektronische Impulse können sie wieder sehen. MICHAEL HOROWITZ über „bionische“ Augen, bewegende Momente und Chrysanthemen.

Einer der emotionalsten Momente meines journalistischen Lebens war, als ich vor vielen Jahren bei einer Ohren-Operation im AKH dabei war. Sofort nach dem Aufwachen aus der Narkose fragte der Arzt die bis dahin gehörlose Patientin Können Sie mich hören? Ihre Antwort Ja, danke Herr Professor werde ich niemals vergessen.
Wie aufregend, wie bewegend muss es erst sein, wenn man nach 30 Jahren wieder Licht sieht – und seine Frau … Die Ärzte am amerikanischen Duke Eye Center haben den Moment auf Video festgehalten: Oh, mein Gott ja!, ruft Larry Hester als er die ersten Lichtblitze und dann seine Frau wahrnimmt. Darf ich ihn küssen? fragte sie nicht minder aufgeregt die Ärzte. Vor 33 Jahren wurde bei Larry eine Netzhautdegeneration festgestellt, die Retinis pigmentosa, eine Krankheit, die rund drei Millionen Menschen weltweit das Augenlicht raubt. Bald sah er nur mehr wie durch eine enge Röhre, die völlige Erblindung folgte. Nach dem Einsetzen einer Netzhautprothese kann Larry jetzt Umrisse von Objekten erkennen – eine Ente in seinem Teich und Chrysanthemen, seine Lieblingsblumen. Nach intensivem Training, bei dem sich das Gehirn auf die neuen Informationen einstellen muss, lässt sich die Sehfähigkeit deutlich verbessern. Manche Patienten erkennen sogar Gesichter und können großgedruckte Texte lesen. Doch das Sehen muss erlernt werden: Es ist nicht wie beim Einschalten eines Bildschirms, es dauert rund ein Jahr, bis das Gehirn die elektrischen Impulse in Muster und Formen umwandeln kann.
Auf diesem wunderbaren Weg ist auch Hildegard Mondschein aus Wien. Als sie zehn war, erblindete sie langsam. Im Juli wurde der 55-Jährigen an der Wiener Rudolfstiftung wie Larry Hester ein Chip ins Auge eingesetzt – als erste Blinde Österreichs erhielt sie ein bionisches Auge. Der Chip mit 60 Elektroden wurde von einer der renommiertesten Augenärztinnen Europas, Prof. Susanne Binder, direkt an der inneren Netzhautschicht angebracht. Dazu ein Relais mit Batterie am Augapfel, kleiner als eine Erbse – und im Gesicht nicht zu erkennen. Über eine Spezialbrille mit einer Kamera erfolgt die Übertragung: Die Videokamera funkt Bilder zu dem auf der Netzhaut eingesetzten Chip, der dann Nervenzellen stimuliert. Der Chip übernimmt die Funktion abgestorbener Sehzellen, indem er einfallendes Licht in elektronische Impulse umwandelt und ans Gehirn weiterleitet.
Hildegard und Larry sind zwei der bis jetzt weltweit rund 150 Blinden, die nach dieser Operation wieder sehen können. Allerdings nur teilweise. Doch bereits in den nächsten ein bis drei Jahren wird es wesentliche Verbesserungen der Software geben, die an das Implantat angeschlossen ist. Prof. Binder spricht von 1000-fach verbesserter Computerleistung, die ein detailreicheres Sehen vermitteln wird, Farbsehen, Ermöglichung von Tiefenschärfe und einer Verbreiterung des Gesichtsfeldes. Für Patienten, die auch eine totale Schädigung des Sehnervs haben, ist ein Implantat im Bereich des Occipitallappens des Gehirns, dem sogenannten Sehzentrum, in Entwicklung. Bis zum Einsetzen des Chips wird es allerdings noch mehr als fünf Jahre dauern.
Eine kurios klingende, mehrfach ausgezeichnete amerikanische Erfindung des National Eye Institute ist Brain Port: Patienten sehen mit der Zunge. Durch ihre vibrierende Stimulierung werden Bilder in den Köpfen blinder Menschen kreiert. In der Mitte einer Brille befindet sich die Mini-Kamera, die einen Gegenstand einfängt und das Bild über Kabel an einen nur handygroßen PC wiedergibt. Von dort wird das Bild über 400 Mini-Elektroden Punkt für Punkt auf den Chip projiziert, der auf der Zunge liegt – jeder Punkt bedeutet ein Kribbeln …
Bis der Traum in Erfüllung geht, dass Ärzte blinden Menschen wieder das Augenlicht zur Gänze schenken können, wird es noch Jahre dauern. Optimisten sprechen von einem Durchbruch in rund zehn Jahren.

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Hildegard Mondschein ist die erste Österreicherin mit einem „bionischen“ Auge. Professor Susanne Binder (l.) brachte einen Chip mit 60 Elektroden direkt an der inneren Netzhautschicht an

michael.horowitz@kurier.at

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